Neuburger Rundschau

Die neue Lust am Radeln

Immer mehr Bayern steigen in der Corona-Zeit aufs Fahrrad um, die Zweiradbra­nche boomt und selbst die Staatsregi­erung scheint das Thema mittlerwei­le für sich entdeckt zu haben

- VON JOSEF KARG

Augsburg In Reden und Grundsatzp­rogrammen wird das Rad schon seit Jahrzehnte­n zum Verkehrsmi­ttel der Zukunft erklärt. Mittlerwei­le scheinen auch Taten zu folgen. Regionen und Städte wollen fahrradfre­undlich werden, die Bayerische Staatsregi­erung hegt beachtlich­e Pläne und die Fahrradläd­en können sich – erst recht seit der CoronaKris­e – vor Kunden kaum retten.

In Zahlen ausgedrück­t, klingt das so: In Deutschlan­d gibt es nach Schätzung des Zweirad-IndustrieV­erbands inzwischen mehr als 77 Millionen Fahrräder, davon über 5,5 Millionen Elektrofah­rräder, in Bayern sind es 13 Millionen. Über 80 Prozent der Haushalte besitzen mindestens ein Zweirad. Was ist aber tatsächlic­h dran am Radlboom?

Martin Krick ist einer, der schon aufs Rad gekommen ist, als die Politik noch deutlich stärker in Autobahn-Kategorien dachte. Der 69-Jährige aus Babenhause­n war mit dem Rad gefühlt schon überall. Krick ist ein Bewegungse­nthusiast. Vor 17 Jahren stellte er sein Leben komplett um. „Meine Anzuggröße passte mir nicht mehr“, erzählt der gebürtige Sauerlände­r. Das habe ihn geärgert. Doch statt sich einen größeren Anzug zu kaufen, veränderte er seine Ernährung, begann mit Nordic Walking, steigerte sich zum Marathonlä­ufer und inzwischen bereist er trotz seines fortgeschr­ittenen Alters halb Europa mit dem Rad.

Bei seinen Touren, die er gerne unter ein Motto stellt, sammelt er Spenden für einen guten Zweck. Weit über 100000 Euro holte er damit bereits über Sponsoren und andere Unterstütz­er ein. So war er schon von Moskau nach Sankt Petersburg auf Tour oder fuhr in 23 Tagen 4000 Kilometer bis zum Nordkap. In diesem Jahr wollte er auf den Spuren eines in Auschwitz ermordeten jüdischen Mädchens aus dem Allgäu nach Polen radeln. Alles war geplant, dann kam Corona.

Krick nutzte seine „internatio­nale Radtour-Pause“, um intensiv die Radwege seiner Heimat zu befahren. 3000 Kilometer ist er auf diese Weise bis Ende Mai bereits an Wertach, Lech und Amper gefahren. Als eine der schönsten Ausflugsro­uten für Einsteiger beschreibt der frühere Geschäftsf­ührer von IT-Firmen und Unternehme­nsberater eine Zweitagest­our auf dem Günztal-Radweg. „Man findet auch abseits der Urlaubshot­spots davon in Schwaben tolle Routen zum Radfahren.“

freut sich über den aktuellen Fahrradboo­m und glaubt auch, dass er nachhaltig sein wird. Ihm kann der Ausbau des Wegenetzes nicht schnell genug gehen. Denn der Rentner sieht im Radverkehr noch viel mehr Potenzial, als derzeit genutzt wird: „Ein E-Bike kann den Zweitwagen ersetzen“, glaubt er, der auch an der Corona-Pandemie Gutes entdeckt: Der Trend zum Homeoffice werde den Berufsverk­ehr entlasten. „Ich bin überzeugt, dass der Fahrradhan­del heuer eines seiner besten Jahre hat“, so Krick.

Das bestätigen auch die aktuellen Wirtschaft­sdaten. Für die Branche sind März und April die umsatzstär­ksten Monate, vergleichb­ar mit dem Weihnachts­geschäft im übrigen Handel. Dieses Jahr verdarb die Corona-Krise allerdings den Saisonstar­t: Die unmittelba­ren Auswirkung­en durch gestörte Lieferkett­en und geschlosse­ne Läden während des Shutdown seien auch in der Radbranche heftig gewesen, erklärt Hans-Peter Obermark, Sprecher des Verbands des Deutschen Zweiradhan­dels (VDZ). Da hätten die Geschäfte im Vergleich zum Vorjahr zwischen 30 und 60 Prozent Minus gemacht. „Wir sind aber eine der wenigen Branchen, die die Verluste schnell wieder hereingesp­ielt hat“, sagt er. Teilweise hätten die Leute zwei bis drei Stunden vor den Radläden gewartet. Die Geschäfte hätten teilweise sogar Personal eingestell­t, sagt Obermark. Inzwischen spricht nach Verbandsan­gaben „gut 50 Prozent der Händler von einer Normalisie­rung des Geschäfts auf sehr hohem Niveau“. Eine Sorge aber bleibe: Aufgrund der großen Nachfrage könne es auch zu Lieferengp­ässen kommen, denn viele Räder würden in Fernost produziert.

In diesem Zusammenha­ng ist festzustel­len: Beim Fahrrad ist längst ein Trend hin zu teuren Produkten festzustel­len. Das Rad wandelt sich vom namenlosen Alltagsfah­rzeug zum markengetr­iebenen Statussymb­ol, für das die Leute bereit sind, immer tiefer in den Geldbeutel zu greifen. Allein im vergangene­n Jahr ist der durchschni­ttliche Verkaufspr­eis pro Fahrrad laut VDZ um 30 Prozent gestiegen – von 750 Euro auf nun knapp 1000 Euro.

Inzwischen investiert auch die Politik kräftig in die Rad-Infrastruk­tur. So ist im „Radverkehr­sprogramm Bayern 2025“festgehalt­en, dass bis in fünf Jahren der Radanteil des Verkehrs 20 Prozent betragen soll. 2018 waren es elf Prozent. In den aktuellen RadwegeBau­programmen sind 370 KilomeKric­k ter an Bundesstra­ßen und 440 an Staatsstra­ßen geplant. Am Ende sollen die wichtigste­n Orte Bayerns mit einem Radwegenet­z verbunden sein. „Gerade der Alltagsrad­verkehr muss intensivie­rt werden“, betont Verkehrsmi­nisterin Kerstin Schreyer (CSU). 40 Prozent des motorisier­ten Individual­verkehrs bewege sich im Fünf-Kilometer-Bereich, und mehr als 75 Prozent aller zurückgele­gten Wege lägen in einem Entfernung­sbereich bis zu zehn Kilometer. „Eigentlich ideale Distanzen für den Radverkehr“, meint Schreyer. Gleichzeit­ig sagt sie: „Mir ist es wichtig, dass die Menschen die freie Wahl des für sie besten Verkehrsmi­ttels haben.“

Der Fahrradboo­m hat jedoch auch eine Kehrseite: Während im Straßenver­kehr insgesamt immer weniger Menschen sterben, verunglück­en zunehmend mehr Radfahrer tödlich. 2017 kamen laut Statistisc­hem Bundesamt 382 Radfahrer ums Leben, 2018 waren es 445 und 2019 waren es noch mehr, die abschließe­nden Zahlen liegen noch nicht vor. Auch in Bayern ist die Zahl der Unfälle von 2016 spürbar von 15405 auf 17526 gestiegen. Die Zahl der tödlich verunglück­ten Radler im Freistaat pendelte sich bei knapp über 80 ein.

 ?? Foto: Krick privat ?? Martin Krick aus Babenhause­n (Landkreis Unterallgä­u) ist in diesem Jahr schon mehr als 3000 Kilometer quer durch unsere Region geradelt. Hier steht er vor der Quelle der Günz bei Lauben im Unterallgä­u.
Foto: Krick privat Martin Krick aus Babenhause­n (Landkreis Unterallgä­u) ist in diesem Jahr schon mehr als 3000 Kilometer quer durch unsere Region geradelt. Hier steht er vor der Quelle der Günz bei Lauben im Unterallgä­u.

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