Die neue Lust am Radeln
Immer mehr Bayern steigen in der Corona-Zeit aufs Fahrrad um, die Zweiradbranche boomt und selbst die Staatsregierung scheint das Thema mittlerweile für sich entdeckt zu haben
Augsburg In Reden und Grundsatzprogrammen wird das Rad schon seit Jahrzehnten zum Verkehrsmittel der Zukunft erklärt. Mittlerweile scheinen auch Taten zu folgen. Regionen und Städte wollen fahrradfreundlich werden, die Bayerische Staatsregierung hegt beachtliche Pläne und die Fahrradläden können sich – erst recht seit der CoronaKrise – vor Kunden kaum retten.
In Zahlen ausgedrückt, klingt das so: In Deutschland gibt es nach Schätzung des Zweirad-IndustrieVerbands inzwischen mehr als 77 Millionen Fahrräder, davon über 5,5 Millionen Elektrofahrräder, in Bayern sind es 13 Millionen. Über 80 Prozent der Haushalte besitzen mindestens ein Zweirad. Was ist aber tatsächlich dran am Radlboom?
Martin Krick ist einer, der schon aufs Rad gekommen ist, als die Politik noch deutlich stärker in Autobahn-Kategorien dachte. Der 69-Jährige aus Babenhausen war mit dem Rad gefühlt schon überall. Krick ist ein Bewegungsenthusiast. Vor 17 Jahren stellte er sein Leben komplett um. „Meine Anzuggröße passte mir nicht mehr“, erzählt der gebürtige Sauerländer. Das habe ihn geärgert. Doch statt sich einen größeren Anzug zu kaufen, veränderte er seine Ernährung, begann mit Nordic Walking, steigerte sich zum Marathonläufer und inzwischen bereist er trotz seines fortgeschrittenen Alters halb Europa mit dem Rad.
Bei seinen Touren, die er gerne unter ein Motto stellt, sammelt er Spenden für einen guten Zweck. Weit über 100000 Euro holte er damit bereits über Sponsoren und andere Unterstützer ein. So war er schon von Moskau nach Sankt Petersburg auf Tour oder fuhr in 23 Tagen 4000 Kilometer bis zum Nordkap. In diesem Jahr wollte er auf den Spuren eines in Auschwitz ermordeten jüdischen Mädchens aus dem Allgäu nach Polen radeln. Alles war geplant, dann kam Corona.
Krick nutzte seine „internationale Radtour-Pause“, um intensiv die Radwege seiner Heimat zu befahren. 3000 Kilometer ist er auf diese Weise bis Ende Mai bereits an Wertach, Lech und Amper gefahren. Als eine der schönsten Ausflugsrouten für Einsteiger beschreibt der frühere Geschäftsführer von IT-Firmen und Unternehmensberater eine Zweitagestour auf dem Günztal-Radweg. „Man findet auch abseits der Urlaubshotspots davon in Schwaben tolle Routen zum Radfahren.“
freut sich über den aktuellen Fahrradboom und glaubt auch, dass er nachhaltig sein wird. Ihm kann der Ausbau des Wegenetzes nicht schnell genug gehen. Denn der Rentner sieht im Radverkehr noch viel mehr Potenzial, als derzeit genutzt wird: „Ein E-Bike kann den Zweitwagen ersetzen“, glaubt er, der auch an der Corona-Pandemie Gutes entdeckt: Der Trend zum Homeoffice werde den Berufsverkehr entlasten. „Ich bin überzeugt, dass der Fahrradhandel heuer eines seiner besten Jahre hat“, so Krick.
Das bestätigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten. Für die Branche sind März und April die umsatzstärksten Monate, vergleichbar mit dem Weihnachtsgeschäft im übrigen Handel. Dieses Jahr verdarb die Corona-Krise allerdings den Saisonstart: Die unmittelbaren Auswirkungen durch gestörte Lieferketten und geschlossene Läden während des Shutdown seien auch in der Radbranche heftig gewesen, erklärt Hans-Peter Obermark, Sprecher des Verbands des Deutschen Zweiradhandels (VDZ). Da hätten die Geschäfte im Vergleich zum Vorjahr zwischen 30 und 60 Prozent Minus gemacht. „Wir sind aber eine der wenigen Branchen, die die Verluste schnell wieder hereingespielt hat“, sagt er. Teilweise hätten die Leute zwei bis drei Stunden vor den Radläden gewartet. Die Geschäfte hätten teilweise sogar Personal eingestellt, sagt Obermark. Inzwischen spricht nach Verbandsangaben „gut 50 Prozent der Händler von einer Normalisierung des Geschäfts auf sehr hohem Niveau“. Eine Sorge aber bleibe: Aufgrund der großen Nachfrage könne es auch zu Lieferengpässen kommen, denn viele Räder würden in Fernost produziert.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen: Beim Fahrrad ist längst ein Trend hin zu teuren Produkten festzustellen. Das Rad wandelt sich vom namenlosen Alltagsfahrzeug zum markengetriebenen Statussymbol, für das die Leute bereit sind, immer tiefer in den Geldbeutel zu greifen. Allein im vergangenen Jahr ist der durchschnittliche Verkaufspreis pro Fahrrad laut VDZ um 30 Prozent gestiegen – von 750 Euro auf nun knapp 1000 Euro.
Inzwischen investiert auch die Politik kräftig in die Rad-Infrastruktur. So ist im „Radverkehrsprogramm Bayern 2025“festgehalten, dass bis in fünf Jahren der Radanteil des Verkehrs 20 Prozent betragen soll. 2018 waren es elf Prozent. In den aktuellen RadwegeBauprogrammen sind 370 KilomeKrick ter an Bundesstraßen und 440 an Staatsstraßen geplant. Am Ende sollen die wichtigsten Orte Bayerns mit einem Radwegenetz verbunden sein. „Gerade der Alltagsradverkehr muss intensiviert werden“, betont Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU). 40 Prozent des motorisierten Individualverkehrs bewege sich im Fünf-Kilometer-Bereich, und mehr als 75 Prozent aller zurückgelegten Wege lägen in einem Entfernungsbereich bis zu zehn Kilometer. „Eigentlich ideale Distanzen für den Radverkehr“, meint Schreyer. Gleichzeitig sagt sie: „Mir ist es wichtig, dass die Menschen die freie Wahl des für sie besten Verkehrsmittels haben.“
Der Fahrradboom hat jedoch auch eine Kehrseite: Während im Straßenverkehr insgesamt immer weniger Menschen sterben, verunglücken zunehmend mehr Radfahrer tödlich. 2017 kamen laut Statistischem Bundesamt 382 Radfahrer ums Leben, 2018 waren es 445 und 2019 waren es noch mehr, die abschließenden Zahlen liegen noch nicht vor. Auch in Bayern ist die Zahl der Unfälle von 2016 spürbar von 15405 auf 17526 gestiegen. Die Zahl der tödlich verunglückten Radler im Freistaat pendelte sich bei knapp über 80 ein.