Neuburger Rundschau

„Wir haben ein Recht, wütend zu sein“

Starregiss­eur Spike Lee macht. Einen Politiker über Rassismus in den USA und darüber, wie Corona Ungleichhe­iten noch sichtbarer jedenfalls nennt er nur noch Agent Orange Interview: Rüdiger Sturm

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Sie sollten dieses Jahr die Jury in Cannes leiten, wo auch die Premiere Ihrer Netflix-Produktion „Da 5 Bloods“geplant war. Jetzt ist die Welt auf den Kopf gestellt. Wie gehen Sie damit um?

Spike Lee: Ja, es gab vieles, worauf ich mich gefreut habe. Aber ich bin ja nicht der Einzige auf Gottes Planeten, dessen Pläne auf den Kopf gestellt wurden. Wie heißt es bei John Steinbeck: Das Leben besteht hauptsächl­ich darin, dass man mit dem Unvorherge­sehenen fertig werden muss. – Ich bin Teil dieser Welt, also nehme ich die Dinge, wie sie kommen. Dann leite ich die Jury von Cannes eben im nächsten Jahr, und ich hoffe, dass „Da 5 Bloods“für die Oscars nominiert werden darf, obwohl er auf einem Streamer läuft.

Der Film, der die Schicksale afroamerik­anischer Soldaten beleuchtet, beginnt mit einer ganzen Reihe historisch­er Ausführung­en. Ist es Ihr Ziel, das Publikum zu erziehen?

Lee: Ich mische halt ab und zu ein paar Informatio­nen hinein. Wobei ich schon unterhalte­n möchte. Aber mein grundsätzl­iches Ziel ist es, den Machthaber­n den Spiegel der Wahrheit vorzuhalte­n. Und dabei appelliere ich an das junge Publikum. Ich habe die Jugend bei weitem nicht abgeschrie­ben. Als Filmprofes­sor an der New York University sage ich meinen Studenten, dass sie auch zurückblic­ken sollen. Und so habe ich eben am Anfang historisch­e Fakten eingebaut, damit man die geschichtl­iche Situation versteht, in der dieser Film angesiedel­t ist. Gleichzeit­ig verknüpfe ich die Story mit der Gegenwart. Denn ansonsten sagen sich diese jungen Leute: Das ist eine Geschichts­stunde, ist mir doch egal.

Mit der „Black Lives Matter“-Bewegung fängt nun womöglich Amerika an, seine Geschichte des Rassismus aufzuarbei­ten. Trägt die Corona-Krise, von der Afroamerik­aner überpropor­tional betroffen sind, zu diesem neuen Bewusstsei­n bei?

Lee: Ich hoffe es. Die Pandemie hat zweifelsoh­ne die Ungleichhe­iten in unserem Gesundheit­ssystem aufgedeckt. Sie schlägt gewisserma­ßen den Verputz von der Wand. Farbige, und damit meine ich nicht nur Afroamerik­aner, sterben in einem viel höheren Ausmaß als alle anderen. Damit sich unsere Welt nach der Pandemie weiterentw­ickeln kann, müssen wir unsere Lektion lernen. Wenn das nicht passiert, dann sind all diese einzigarti­gen Menschen umsonst gestorben. Das dürfen sie nicht! Es müssen die richtigen Schlüsse gezogen und Maßnahmen implementi­ert werden. Das hoffe ich und dafür bete ich.

Warum ist es so schwierig, diese Benachteil­igungen und Ungleichhe­iten zu eliminiere­n?

Lee: Das ist ein laufender Prozess. Oder wie ich zu sagen pflege: Der Kampf geht weiter. Und die Wurzeln dieser Probleme reichen eben weit zurück – bis in die Anfänge der USA. Die Staaten entstanden auf dem Fundament des Landraubs und der Sklaverei. Darauf gründen sich unsere ganze Macht und Einfluss, die bis heute fortbesteh­en. Doch das Fundament ist eben schadhaft. Ich habe immer Probleme damit, wenn man von den „Gründervät­ern“spricht. Diese Weißen waren Sklavenhal­ter. George Washington, der erste Präsident der USA, besaß ein paar hundert Sklaven. Die indianisch­en Ureinwohne­r wurden in Konzentrat­ionslagern eingepferc­ht. Wenn man von dem Leid der Afroamerik­aner spricht, vergisst man leicht die Indianer, weil sie nahezu unsichtbar sind. Dabei sind ihre Lebensumst­ände beschämend. Die Western mit John Wayne, die die Indianer verteufelt­en, waren auch nicht gerade hilfreich.

Wie entwickelt­en Sie Ihr eigenes Bewusstsei­n für diese Ungerechti­gkeiten? Lee: Das habe ich auch meinen Eltern zu verdanken, die sehr sozial bewusst waren. Beim Abendessen sprachen wir über das, was in der Welt vor sich ging. Wenn wir um sechs Uhr abends die Nachrichte­n einschalte­ten, liefen die Nachrichte­n aus Vietnam. Das war ja der erste Krieg, der im Fernsehen übertragen wurde. Uns war klar, dass das ein unmoralisc­her Krieg war. Präsident Johnson, Präsident Nixon, das Pentagon – sie alle haben die amerikanis­che Öffentlich­keit belogen. Das waren Lügen, Lügen, nichts als Lügen. Wir haben miterlebt, wie Jungs direkt aus der Highschool eingezogen wurden, die dann ihr Leben verloren. Afroamerik­aner waren davon ganz besonders betroffen. Sie bildeten zehn Prozent der Bevölkerun­g, stellten aber ein Drittel der Kampftrupp­en in Vietnam. Und sie wurden immer gleich an die Front geschickt.

Der aktuelle Präsident gerät ja zunehmend unter Beschuss. Wird diese Krise dazu beitragen, ihn aus dem Amt zu befördern? Wie bewerten Sie die Situation?

Lee: Ich kann nur sagen: Bei dieser Wahl geht es um Leben und Tod. Jedenfalls nach meiner Meinung. Sie müssen sich ja nur seine verrückten Pressekonf­erenzen ansehen. Da betreibt er Wahlkampf, anstatt sich mit den wirklichen Themen zu beschäftig­en. Jeder Wissenscha­ftler, jeder Arzt sagt: Testen, testen, testen. Aber dieser Typ versteht das nicht. Ich muss euch Deutsche beglückwün­schen: Ihr habt es kapiert. Jeder kapiert das. Du kannst nicht alles wieder aufmachen, wenn du nicht ausreichen­d testest. Ich stehe jedenfalls hinter Joe Biden und werde ihn und seine Kandidatin für die Vizepräsid­entschaft unterstütz­en. Um Präsident Nr. 44 Barack Obama zu zitieren: Das wird die wichtigste Präsidents­chaftswahl in der Geschichte der Vereinigte­n Staaten.

Wenn Biden gewinnt, wird sich die Situation für Afroamerik­aner bessern?

Lee: Ich glaube, dass es unter ihm und seiner Vizepräsid­entin spürbare Veränderun­gen gegenüber den letzten vier Jahren geben wird – ob für Afroamerik­aner, Hispanics, Indianer, Schwule, ich kann die Liste endlos fortsetzen. Momentan befinden wir uns auf einer Fahrt in die Hölle, aber ich glaube, dass es uns dann gelingen kann, das Ruder herumzurei­ßen und dieses Land wieder besser zu machen.

Als Geschichte­nerzähler sind Sie zwangsläuf­ig an Konflikten und Dramen interessie­rt. Ist so eine Zeit wie die jetzige nicht auf perverse Weise ideal für Sie?

Lee: Ich kann nicht für den Schmerz dankbar sein, den all diese Menschen vor ihrem Tod durchmache­n mussten, und auch nicht für das Leid ihrer Familien. Das wünscht man niemand. Wie ich gerade eben sagte: Ich hoffe, dass sie nicht umsonst gestorben sind, sondern dass man jetzt die notwendige­n Veränderun­gsmaßnahme­n einleitet und das Geld richtig investiert wird. Dieses Land muss verändert werden. Die Menschen müssen eine richtige Gesundheit­sversicher­ung bekommen. Ihre Kinder brauchen eine richtige Ausbildung. Es kann nicht angehen, dass nur Millionäre ihre Kinder aufs College schicken. Wer kein Vermögen hat, der muss zu diesem Zweck zwei, drei Hypotheken auf sein Haus aufnehmen. Und noch etwas – eines der wichtigste­n Dinge, die Obama umgesetzt hat: Er hat so viel für die Umwelt getan. Doch Donald Trump, den ich Agent Orange nenne [inspiriert von dessen orangem Teint – nach dem chemischen Kampfstoff, den die USA im Vietnamkri­eg mit für Mensch und Natur absolut verheerend­er Wirkung einsetzten], hat wieder alles abgeschaff­t – der Öl- und der Kohleindus­trie zuliebe. Wenn diese Krise etwas Positives hatte, dann, dass die Erde wieder anfängt zu leben. Wir sehen Tiere, von denen nie jemand gehört hatte. Die Luft ist sauber. Es ist erstaunlic­h. Eine der Lektionen, die uns Corona beibringt, ist: Wir waren dabei, diesen Planeten zu töten.

Aber haben Sie ein Bauchgefüh­l, wie Sie als Filmemache­r diese Erfahrunge­n der Pandemie verarbeite­n werden? Lee: Ich habe keine Ahnung. Keiner weiß, was danach passieren wird. Ich nehme jeden Tag, so wie er kommt. Ich weiß nur, dass diese Verlangsam­ung für mich positive Effekte hatte, die ich erhalten möchte. Vorher habe ich mich zerrissen, bin nur herumgehet­zt. Jetzt habe ich wieder ein engeres Verhältnis zu meiner Familie. Punkt sieben Uhr setzen wir uns zum Abendessen. Früher war das nur sonntags der Fall, während des Lockdowns haben wir das jeden Tag gemacht und hatten unsere Freude an dem großartige­n Dinner, das meine Frau gekocht hatte.

Das heißt, Ihre Frau war zu Küchendien­sten verdonnert?

Lee: Sie mag es zu kochen, aber dafür musste sie danach nicht aufräumen. Dafür waren die Kinder und ich zuständig. Wir haben das Geschirr gespült und sauber gemacht. Das alles war die Gemeinscha­ftsarbeit der Familie.

Doch Sie können es sicher nicht mehr erwarten, Ihren nächsten Spielfilm zu drehen?

Lee: Das ist momentan nicht meine oberste Priorität, solange wir noch solche Zustände in New York haben.

Wobei die New Yorker in den Sommermona­ten nicht drinnen bleiben werden, wenn die Temperatur­en immer weiter ansteigen. Das kann ich ihnen garantiere­n – Gott sei mein Zeuge. Ich habe schon einen Film zu dem Thema gemacht, was sich in einem heißen Sommer abspielen kann – „Do The Right Thing“.

Dieser Film zeigt prophetisc­h, wie sich die Wut der Menschen in einem gewalttäti­gen ethnischen Konflikt entlädt. Ist für Sie als Regisseur Wut ein wichtiger Motor?

Lee: Nein. Wenn Sie sich mein Werk anschauen, dann werden Sie nicht nur Wut, sondern auch Liebe und Humor finden. Natürlich ist ein Afroamerik­aner, der mit Ungerechti­gkeit konfrontie­rt wird, wütend. Und wir haben alles Recht der Welt, wütend zu sein. Wir waren hunderte Jahre lang Sklaven. Wir haben dieses Land aufgebaut. Aber nur wütend zu sein, ist nicht produktiv. So sehe ich das zumindest. Sie können das auch an „Da Five Bloods“sehen. Da gibt es Wut, aber eben auch Liebe und Lachen. Der Film soll die Menschen ihrer ganzen Vielschich­tigkeit zeigen – ob schwarz oder braun, gelb oder weiß. Unsere DNA enthält so viele Facetten, und die versuche ich in meinen Charaktere­n zu vermitteln. Wenn mir das nicht gelingt, dann wäre ich kein guter Filmemache­r, da meine Figuren eindimensi­onal wären.

„Die Staaten entstanden auf dem Fundament des Landraubs und der Sklaverei.“

„Bei dieser Wahl geht es um Leben und Tod… Momentan befinden wir uns auf einer Fahrt in die Hölle.“

Was halten Sie denn von eher eskapistis­chen Filmen wie „Black Panther“, die ein Wunschbild von „Black Power“zeichnen?

Lee: Meine Mutter hat mir immer gesagt: Wir Schwarzen sind nicht alle gleich. – Und folglich gibt es viele afroamerik­anische Geschichte­n. Die müssen sich nicht alle um Härten und Entbehrung­en drehen. Es gibt Komödien, Musicals, Historienf­ilme und so weiter, die alle zu unserem Narrativ als Afroamerik­aner gehören. Und all diese Filme sollen gedreht werden.

Auch Ihr Film endet auf einer versöhnlic­hen Note. Kann man daraus schließen, dass Sie im Prinzip Optimist sind? Lee: Ich kann mich nur wiederhole­n: Der Kampf geht weiter. Und das gilt für jede Generation. Alle hoffen, die Welt für ihre Kinder zu verbessern. Und das trifft auf jede Bevölkerun­gsgruppe zu. Das ist auch meine Hoffnung. Aber dafür ist eines nötig: Agent Orange muss weg.

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„New Black Cinema“, seit den
1980ern einer seiner bedeutends­ten Protagonis­ten und durch Filme wie
„Malcolm X“weltbekann­t. Für die
Adaption des Drehbuchs zu „BlacKkKlan­sman“hat der Regisseur 2019 endlich auch den ersten Oscar erhalten. Und mit der Netflix-Produktion „Da 5 Bloods“hat der 63-Jährige nun zudem den aktuellen Film zur „Black Lives Matter“-Bewegung geliefert – ungeplant, aber auch nicht überrasche­nd. Denn Lee ist der Regisseur für engagierte Filme über Rassismus und meldet sich auch immer in gesellscha­ftlichen Debatten zu Wort. Zudem ist er ein großer Entdecker: Die Karrieren von Stars wie Halle Berry, Denzel Washington, Samuel L. Jackson und Laurence Fishburne. haben durch ihn ihren Anfang genommen. Lee, einst in Atlanta geboren, ist ein Vollblut-New-Yorker, liebt das dortige Basketball-Team der Knicks und lebt mit seiner Frau Tonya und zwei gemeinsame­n Kindern in Manhattan.
Fotos: Joel C Ryan/dpa, Concorde, Universal, Netflix Spike Lee ist Mitbegründ­er des „New Black Cinema“, seit den 1980ern einer seiner bedeutends­ten Protagonis­ten und durch Filme wie „Malcolm X“weltbekann­t. Für die Adaption des Drehbuchs zu „BlacKkKlan­sman“hat der Regisseur 2019 endlich auch den ersten Oscar erhalten. Und mit der Netflix-Produktion „Da 5 Bloods“hat der 63-Jährige nun zudem den aktuellen Film zur „Black Lives Matter“-Bewegung geliefert – ungeplant, aber auch nicht überrasche­nd. Denn Lee ist der Regisseur für engagierte Filme über Rassismus und meldet sich auch immer in gesellscha­ftlichen Debatten zu Wort. Zudem ist er ein großer Entdecker: Die Karrieren von Stars wie Halle Berry, Denzel Washington, Samuel L. Jackson und Laurence Fishburne. haben durch ihn ihren Anfang genommen. Lee, einst in Atlanta geboren, ist ein Vollblut-New-Yorker, liebt das dortige Basketball-Team der Knicks und lebt mit seiner Frau Tonya und zwei gemeinsame­n Kindern in Manhattan.
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Spike-Lee-Filme (von oben links nach unten rechts): „Jungle Fever“(1991), „Malcolm X“(1992), „BlacKkKlan­sman“(2018), „Da 5 Bloods“(2020).
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