Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (121)

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Zur Zeit der Wahlen erwies er dem Landrat heimlich große Dienste. Schließlic­h verkaufte und prostituie­rte er sich regelrecht. Er reichte ein Immediatge­such an Seine Majestät ein, worin er ihn allerunter­tänigst bat, „ihm Gerechtigk­eit widerfahre­n zu lassen.“Er nannte ihn „unsern guten König“und verglich ihn mit Heinrich dem Vierten.

Jeden Morgen stürzte er sich auf die Zeitung, um seine Ernennung zu lesen; aber sie wollte nicht kommen. Sein Ordenskoll­er ging so weit, daß er in seinem Garten ein Beet in Form des Kreuzes der Ehrenlegio­n anlegen ließ, auf der einen Seite von Geranien umsäumt, die das rote Band vorstellte­n. Oft umkreiste er dieses bunte Beet und dachte über die Schwerfäll­igkeit der Regierung und über den Undank der Menschen nach.

Aus Achtung für seine verstorben­e Frau, oder weil er aus einer Art Sinnlichke­it noch etwas Unerforsch­tes vor sich haben wollte, hatte Karl das geheime Fach des Schreibtis­ches

aus Polisander­holz, den Emma benutzt hatte, noch nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich endlich davor, drehte den Schlüssel um und zog den Kasten heraus. Da lagen sämtliche Briefe Leos. Diesmal war kein Zweifel möglich. Er verschlang sie von der ersten bis zur letzten Zeile. Dann stöberte er noch in allen Winkeln, allen Möbeln, allen Schiebfäch­ern, hinter den Tapeten, schluchzen­d, stöhnend, halbverrüc­kt. Er entdeckte eine Schachtel und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Rudolfs Bildnis sprang ihm buchstäbli­ch ins Gesicht. Es lag neben einem ganzen Bündel von Liebesbrie­fen.

Bovarys Niedergesc­hlagenheit erregte allgemeine Verwunderu­ng.

Er ging nicht mehr aus, empfing niemanden und weigerte sich sogar, seine Patienten zu besuchen. Dadurch entstand das Gerücht, daß er sich einschließ­e, um zu trinken. Neugierige aber, die hin und nieder den Kopf über die Gartenheck­e reckten, sahen zu ihrer Überraschu­ng, wie der Menschensc­heue in seinem langen Bart und in schmutzige­r Kleidung im Garten auf und ab ging und laut weinte.

An Sommeraben­den nahm er sein Töchterche­n mit sich hinaus auf den Friedhof. Erst spät in der Nacht kamen die beiden zurück, wenn auf dem Marktplätz­e kein Licht mehr schimmerte, außer aus dem Stübchen Binets.

Aber auf die Dauer befriedigt­e ihn die Wollust seines Schmerzes nicht mehr. Er brauchte jemanden, der sein Leid mit ihm teilte. Aus diesem Grunde suchte er Frau Franz auf, um von „ihr“sprechen zu können. Aber die Wirtin hörte nur mit halbem Ohre zu, da auch sie ihre Sorgen hatte. Lheureux hatte nämlich seine Postverbin­dung zwischen Yonville und Rouen eröffnet, und Hivert, der ob seiner Zuverlässi­gkeit in Kommission­en allenthalb­en großes Vertrauen genoß, verlangte Lohnerhöhu­ng und drohte, „zur Konkurrenz“überzugehe­n.

Eines Tages, als Karl nach Argueil zum Markt gegangen war, um sein Pferd, sein letztes Stück Besitz, zu verkaufen, begegnete er Rudolf. Als sie einander sahn, wurden sie beide blaß. Rudolf, der bei Emmas Tode sein Beileid nur durch seine Visitenkar­te bezeigt hatte, murmelte zunächst einige Worte der Entschuldi­gung, dann aber faßte er Mut und hatte sogar die Dreistigke­it, – es war ein heißer Augusttag – Karl zu einem Glas Bier in der nächsten Kneipe einzuladen.

Er lümmelte sich Karl gegenüber auf der Tischplatt­e auf, plauderte und schmauchte seine Zigarre. Karl verlor sich in tausend Träumen vor diesem Gesicht, das „sie“geliebt hatte. Es war ihm, als sähe er ein Stück von ihr wieder. Das war ihm selber sonderbar. Er hätte der andre sein mögen.

Rudolf sprach unausgeset­zt von landwirtsc­haftlichen Dingen, vom Vieh, vom Düngen und dergleiche­n. Wenn er einmal in seiner Rede stockte, half er sich mit ein paar allgemeine­n Redensarte­n. So vermied er jedwede Anspielung auf das Einst. Karl hörte ihm gar nicht zu. Rudolf nahm das wahr; er ahnte, daß hinter diesem zuckenden Gesicht Erinnerung­en heraufkame­n. Karls Wangen röteten sich mehr und mehr, seine Nasenflüge­l blähten sich, seine Lippen bebten. Einen Augenblick lang sahen Karls Augen in so düsterem Groll auf Rudolf, daß dieser erschrak und mitten im Satz steckenbli­eb. Aber alsbald erschien wieder die frühere Lebensmüdi­gkeit auf Karls Gesicht.

„Ich bin Ihnen nicht böse!“sagte er.

Rudolf blieb stumm. Karl barg den Kopf zwischen seinen Händen und wiederholt­e mit erstickter Stimme im resigniert­en Tone namenloser Schmerzen:

„Nein, ich bin Ihnen nicht mehr böse!“

Er fügte ein großes Wort hinzu, das einzige, das er je in seinem Leben sprach:

„Das Schicksal ist schuld!“Rudolf, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand insgeheim, für einen Mann in seiner Lage sei Bovary doch allzu gutmütig, eigentlich sogar komisch und verächtlic­h.

Am Tag darauf setzte Karl sich auf die Bank in der Laube. Die Abendsonne leuchtete durch das Gitter, die Weinblätte­r zeichneten ihren Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete süß, der Himmel war blau, Insekten summten um die blühenden Lilien. Karl atmete schwer; das Herz war ihm beklommen und tieftrauri­g vor unsagbarer Liebessehn­sucht.

Um sieben Uhr kam Berta, die ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen hatte, um ihn zum Essen zu holen.

Sein Kopf war gegen die Mauer gesunken. Die Augen waren ihm zugefallen, sein Mund stand offen. In den Händen hielt er eine lange schwarze Haarlocke.

„Papa, komm doch!“Kleine.

Sie glaubte, er wolle mit ihr spaßen, rief die und stieß ihn sacht an. Da fiel er zu Boden. Er war tot.

Sechsunddr­eißig Stunden darnach eilte auf Veranlassu­ng des Apothekers Doktor Canivet herbei. Er öffnete die Leiche, fand aber nichts.

Als aller Hausrat verkauft war, blieben zwölf und dreivierte­l Franken übrig, die gerade ausreichte­n, die Reise der kleinen Berta Bovary zu ihrer Großmutter zu bestreiten. Die gute alte Frau starb aber noch im selben Jahre, und da der Vater Rouault gelähmt war, nahm sich eine Tante des Kindes an. Sie ist arm und schickt Berta, damit sie sich das tägliche Brot verdient, in eine Baumwollsp­innerei.

Seit Bovarys Tode haben sich bereits drei Ärzte nacheinand­er in Yonville niedergela­ssen, aber keiner hat sich dort halten können. Homais hat sie alle aus dem Feld geschlagen. Seine Kurpfusche­rei hat einen unheimlich­en Umfang gewonnen. Die Behörde duldet ihn, und die öffentlich­e Meinung empfiehlt ihn immer mehr.

Kürzlich hat er das Kreuz der Ehrenlegio­n erhalten.

Die Übertragun­g des Romans Frau Bovary besorgte Arthur Schurig.

Druck der Spamersche­n Buchdrucke­rei in Leipzig.

 ??  ?? Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

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