Es gibt fast mehr offene Fragen als Impfstoff-Dosen
Leitartikel Deutschland hat mit seiner Impfaktion gegen das Coronavirus begonnen. Doch schon der Anfang zeigt: Dieser Weg wird steinig bleiben
Manchmal kommt die Hoffnung in ganz kleinen Dosen daher. Gerade einmal 0,3 Milliliter des Corona-Impfstoffes sind in den Fläschchen enthalten, die seit Sonntag einer ersten Gruppe verabreicht werden. BNT162b2 ist so etwas wie das Versprechen auf einen Anfang vom Ende. Monatelang fieberte Deutschland dem Start der Impfaktion entgegen. Doch der Wunsch, dass dieses Virus so schnell verschwinden möge, wie es sich auf der ganzen Welt verbreitet hat, dürfte kaum in Erfüllung gehen. Schon der erste Tag hat gezeigt, dass der Weg holprig sein wird.
Die Zahl der mit oder an dem Coronavirus gestorbenen Menschen hat in Deutschland inzwischen die Grenze von 30000 überschritten. Die Trendwende muss also dringend gelingen. Und dazu gehört auch, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Viel zu lange hat sich die Politik von den niedrigen Infektionszahlen des Sommers blenden lassen, die Wucht des Winters hat die Krisenmanager kalt erwischt. Nicht anders ist es zu erklären, warum erst jetzt über die viel zu geringen Impfvorräte diskutiert wird. Dass sich Deutschland ausgerechnet in diesem Fall auf eine Sammelbestellung der EU verlassen hat, wirkt im Rückblick fast wie ein schlechter Witz mit einer ganz traurigen Pointe. Solidarität ist wichtig – gerade in Ausnahmesituationen. Doch wenn die Folge ist, dass alle mit angezogener Handbremse fahren, ist niemandem geholfen. Fakt ist: Wenn wir es nicht schaffen, bis zum Spätsommer zumindest so viele Menschen gegen das Virus zu immunisieren, dass sich weitere Corona-Ausbrüche leicht lokal eingrenzen lassen, steht uns der nächste Lockdown-Herbst bevor. Die Folgen davon will sich kaum jemand auch nur im Ansatz ausmalen.
Je länger sich die Corona-Impfaktion hinzieht, umso schwieriger wird es werden. Schon heute haben wir uns an immer neue Rekordzahlen gewöhnt, der einstige Inzidenz-Schreckwert von 50 wirkt fast wie ein niedliches Relikt aus einer anderen Zeit. Die Motivation, sich impfen zu lassen, dürfte daher eher sinken als steigen. Zumal mit der Aussicht auf eine Besserung in den warmen Monaten. Abwarten und hoffen aber wird kaum eine Alternative
sein. Vieles wird jetzt davon abhängen, wie schnell andere Unternehmen wie Astra Zeneca ihren Impfstoff auf den Markt bringen könnten.
Und doch könnte der Mangel an Impfstoff noch das kleinste Problem bleiben. Die Tücken lauern in jedem noch so kleinen Detail. Wann erfahren die über 80-Jährigen, die nicht im Heim leben, wann sie geimpft werden? Wie werden alle anderen Gruppen über ihren Impftermin informiert? Wie können Pannen in der Kühlkette verhindert werden? Wirken die Impfstoffe noch, wenn das Virus weiter mutiert? Gefühlt gibt es inzwischen mehr Fragen als Impfdosen. Es wird Geduld auf allen Seiten benötigen, ehe diese schwierige Zeit überwunden ist.
Denn eines müssen wir den Verantwortlichen in der Politik bei aller Kritik zugutehalten: Nie war es schwerer, Entscheidungen zu treffen. Kaum jemand hätte sich noch vor einem Jahr vorstellen können, wie weit unsere Welt innerhalb kürzester Zeit aus den Angeln gehoben werden kann. Das Prinzip „Versuch und Irrtum“hat uns durch die vergangenen Monate begleitet. Der Sinn von Masken, die Notwendigkeit eines erneuten Lockdowns, der Schutz von Pflegeheimen und nun der Ruckelstart der Impfkampagne – Corona-Politik war und bleibt ein steiniges Feld. Es ist wichtig, das anzuerkennen. Denn eine Politik, der die Gesellschaft keine Fehler nachsieht, ist zum Stillstand verdammt. Und der kann tödlich enden.
Wir müssen der Politik auch Fehler zugestehen