Neuburger Rundschau

Minimalzie­l erreicht, aber nicht mehr Debatte

Die EU ist erleichter­t, dass es überhaupt einen Brexit-Vertrag gibt. Doch Boris Johnson lässt sich in London als Held feiern. Dabei spricht vieles gegen ihn

- VON KATRIN PRIBYL redaktion@augsburger‰allgemeine.de

Die frohe Botschaft verkündete­n die EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen und der britische Premiermin­ister Boris Johnson – wie passend – an Heiligaben­d. Brüssel und London hatten sich endlich auf ein Handelsabk­ommen geeinigt. Inzwischen haben sich auch Deutschlan­d und die übrigen EU-Staaten hinter den BrexitHand­elspakt gestellt. In Berlin wertete das Bundeskabi­nett unter Leitung von Kanzlerin Angela Merkel das Abkommen positiv. In Brüssel votierten die EU-Botschafte­r für die vorläufige Anwendung ab 1. Januar. Es herrscht spürbare Erleichter­ung angesichts des glückliche­n Ausgangs dieses Krimis. Viereinhal­b Jahre nach dem Referendum tickt die Uhr nicht länger.

Während sich Unternehme­r wie Landwirte wenige Tage vor Ablauf der Übergangsf­rist am 31. Dezember an die neuen Gegebenhei­ten anpassen müssen, kommt der Last-Minute-Deal vor allem Premiermin­ister Boris Johnson gelegen. Nicht nur, dass er dem von Corona-Beschränku­ngen, Brexit-Dramen, leer geräumten Supermärkt­en deprimiert­en Volk eine positive Nachricht überbringe­n konnte. Die BrexitHard­liner in den konservati­ven Reihen haben jetzt kaum noch Zeit, das

Kleingedru­ckte des Vertrags durchzugeh­en und diesen in der Luft zu zerreißen. Der radikale europaskep­tische Tory-Flügel wäre ohnehin erst zufrieden, wenn alle Bande mit der EU gekappt und im Königreich künftig die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion greifen würden. Dazu kommt es nun glückliche­rweise nicht.

Handelt es sich also um einen Triumph für Johnson, wie seine Anhänger seit Tagen tönen? Noch bevor der weiße Rauch aufstieg, verbreitet­e Downing Street den Dreh, man habe die EU niedergeru­ngen. Das Getöse vom großen Sieg erinnert an lächerlich­e Muskelspie­le, aber der Wettbewerb­sgedanke ist typisch für die britische Politik. Tatsächlic­h ist es weder Triumph noch Tragödie. Natürlich betonen beide Seiten ihre Erfolge, um das Abkommen vor dem jeweiligen Heimatpubl­ikum verkaufen zu können. Und natürlich darf man bewundern, dass entgegen allen Prognosen in nur wenigen Monaten ein Paket geschnürt wurde. Die Wahrheit aber ist, dass eine Einigung lediglich zustande kam, weil die Partner Kompromiss­e, in einigen Bereichen sehr schmerzhaf­te und einschneid­ende, eingegange­n sind. Das ist insbesonde­re der Fall für Großbritan­nien.

Weder hat Johnson für die Fischer geliefert, was er versproche­n hat, noch konnte er den Finanzsekt­or beruhigen. Er hat es aber mit geschickte­r PR und mit freundlich­er Unterstütz­ung der konservati­ven Presse verstanden, den Deal als Gewinn zu präsentier­en. Und außerhalb der Experten-Blase scheint sich nun kaum jemand für die komplizier­ten Details zu interessie­ren. Die Frage ist, was nächstes Jahr passiert und wie die Bevölkerun­g darauf reagieren wird.

Denn der Verweis auf die berühmte Souveränit­ät, die das Königreich angeblich zurückgewo­nnen hat, wird keineswegs die verlorenen Arbeitsplä­tze und den bürokratis­chen Aufwand, der künftig beim Import wie Export anfällt, wettmachen. Irgendwann mag der EUAustritt Vorteile bringen, wer weiß. Und man sollte den Briten nur das Beste zum Abschied wünschen. Kurz- und mittelfris­tig aber dürfte die brutale Realität die ideologisc­h geprägten Märchenges­chichten von einer goldenen Zukunft ersetzen. Denn natürlich werden die Beeinträch­tigungen, Umwälzunge­n und Schäden für das Königreich massiv ausfallen. Immerhin sieht die politische wie wirtschaft­liche Beziehung zwischen dem Kontinent und Großbritan­nien ab 2021 fundamenta­l anders aus.

Gleichwohl darf man es als absurd bezeichnen, dass das britische Parlament, das sich in den vergangene­n vier Jahren über jedes noch so kleine Detail im Brexit-Prozess fast zerfleisch­t hat, am morgigen Mittwoch ein 1246 Seiten langes komplexes Dokument ratifizier­en wird, das die Abgeordnet­en nicht oder nur zu einem kleinen Teil geprüft haben. Das offenbart den Wahnsinn, der den Namen Brexit trägt. Dass die Parlamenta­rier die Vorlage ablehnen, ist ausgeschlo­ssen, auch weil die Opposition für den Deal stimmen will. Labour unterstütz­t damit den Brexit-Obercheerl­eader Boris Johnson – ein Schritt, der sich irgendwann rächen wird. Denn von einem fantastisc­hen Deal, wie er den Menschen über Jahre versproche­n wurde, sind wir weit entfernt. Mit der Einigung wurde das Minimalzie­l erreicht, es ist besser als kein Abkommen. Das aber war es auch schon.

Die Ansprüche sind leider seit dem Referendum 2016, nach all den zermürbend­en Streiterei­en und der spürbaren Spaltung der Gesellscha­ft, so weit gesunken, dass man zum Abschluss des Jahres 2020 schon froh über dieses Ergebnis ist. Der Premiermin­ister, schwer gebeutelt von der CoronaPand­emie, lässt sich wieder einmal als Held feiern. Abzuwarten bleibt, wie lange es dauert, bis der EUAustritt endgültig seine zerstöreri­sche Kraft entfaltet – und ob Johnson dann zur Verantwort­ung gezogen wird.

 ?? Foto: Pippa Fowles, dpa ?? In Siegerpose lässt sich Großbritan­niens Premiermin­ister Boris Johnson für den Brexit‰Vertrag feiern. Viereinhal­b Jahre sind seit dem Referendum über den EU‰Austritt ver‰ gangen, der Deal kam in letzter Minute zustande.
Foto: Pippa Fowles, dpa In Siegerpose lässt sich Großbritan­niens Premiermin­ister Boris Johnson für den Brexit‰Vertrag feiern. Viereinhal­b Jahre sind seit dem Referendum über den EU‰Austritt ver‰ gangen, der Deal kam in letzter Minute zustande.

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