Wirecard und kein Ende
Der Skandal dürfte die Justiz über Jahre beschäftigen
München In Sachen Wirtschaftskriminalität ist 2020 ein denkwürdiges Jahr: Mindestens fünf Jahre lang soll der Vorstand des Zahlungsdienstleisters Wirecard in einem Fall von „gewerbsmäßigem Bandenbetrug“Banken und Investoren systematisch belogen haben – bis zum Insolvenzantrag. Die juristische Aufarbeitung wird aller Voraussicht nach länger als fünf Jahre dauern.
An erster Stelle stehen die strafrechtlichen Ermittlungen. Deren Abschluss ist nicht in Sicht, sagt Oberstaatsanwältin Anne Leiding, Sprecherin der Münchner Ermittlungsbehörde. Mit einem mutmaßlichen Schaden von über drei Milliarden Euro ist die Bilanzmanipulation bei dem früheren Dax-Konzern ein Kandidat für den größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Staatsanwaltschaft hat das mit Wirecard befasste Personal seit Sommer fast verdoppelt: von sechs auf zehn Ermittler. Ende Januar wird sich entscheiden, ob ExVorstandschef Markus Braun auf freien Fuß kommt. Nach einem halben Jahr in U-Haft steht ein Haftprüfungstermin an. Zusätzlich kompliziert werden die Ermittlungen, dass wesentliche Schauplätze in Dubai und in Südostasien liegen. „Wir haben zahlreiche Rechtshilfeersuchen gestellt und europäische Ermittlungsanordnungen beantragt“, berichtet Leiding weiter. Hauptvorwurf ist, dass die Wirecard-Chefetage spätestens 2015 beschlossen haben soll, die Bilanzen mit Scheingeschäften aufzublähen. Wirecard hatte Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt.
Noch sehr viel länger dauern als das Strafverfahren dürfte die Entschädigung der Wirecard-Gläubiger. Bis zur Gläubigerversammlung im November hatten Banken, Investoren, Geschäftspartner und Aktionäre Forderungen über zwölf Milliarden Euro angemeldet. Hinzu kommt: Die Verluste der Aktionäre sind noch viel größer als der mutmaßliche Betrugsschaden. Die Wirecard-Papiere haben innerhalb von zwei Jahren über 20 Milliarden Euro eingebüßt. Doch es sieht nicht so aus, als ob die Aktionäre übermäßig große Chancen hätten, einen Teil ihrer Verluste im Rahmen des Insolvenzverfahrens wieder hereinzuholen. Das wird womöglich ebenfalls vor Gericht geklärt.
Neben Straf- und Insolvenzverfahren steht eine Vielzahl von Zivilklagen.
Die meisten richten sich gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. Am Stuttgarter Landgericht sind bis Anfang Dezember knapp 70 Klagen gegen EY eingegangen, am Münchner Landgericht knapp 20. Dem früheren Vorstandschef Braun wird von seinem einstigen Milliardenvermögen voraussichtlich wenig bis nichts bleiben.
Schneller als die Justiz dürfte immerhin die Politik sein. Infolge des Skandals sind deutsche Behörden in die Kritik geraten. Kurz vor Weihnachten beschloss die Bundesregierung den Gesetzentwurf, der die Befugnisse der Finanzaufsicht BaFin stärken soll. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags soll klären, ob Behörden und/oder Politik versagten. Dessen Arbeit muss bis zur Sommerpause abgeschlossen sein, denn dann endet die Wahlperiode und die Bundestagswahl steht vor der Tür. Carsten Hoefer, dpa