Neuburger Rundschau

Nun bleibt ihm vor allem Hoffnung

Mario Rossi arbeitete bei einem Autozulief­erer – hart und viel. Nach Jahren des Booms kam erst die Krise, dann Corona – und Rossi verlor seinen Job. Jetzt kämpft und hofft er

- VON TOM KROLL

Augsburg Nach dem Gottesdien­st umfasst der zehnjährig­e Francesco den Bauch seines Vaters, drückt sein Gesicht dagegen, guckt nach unten. Er will nichts sagen. Zur schwierige­n Lage, in der seine Familie steckt. „Wir vertrauen auf Jesus Christus“, unterbrich­t sein Vater Mario die Stille. „Es wird wieder bergaufgeh­en.“Francesco nickt. Mario Rossi ist nicht der richtige Name des Vaters. Er will nicht, dass sein wahrer Name im Zusammenha­ng mit dem Jobverlust auftaucht.

Vor Corona war Mario Rossi angestellt bei einer Firma, die Teile für die Automobilp­roduktion fertigt. Er hat im Lager, in der Kommission­ierung, gearbeitet. Wir haben uns mit Mario Rossi in seinem Reihenhaus zum Interview getroffen, eine Woche später zum Kirchgang in der Italienisc­hen Mission Augsburg. Wir wollten von ihm wissen, was sich in seinem alltäglich­en Leben verändert hat, seit er arbeitslos ist, in seinem und in dem seiner Familie. Wir wollten wissen, wie er nun auf die Arbeitswel­t blickt. Und dabei sein, wenn er wieder zu Kräften kommt. „Die Kirche ist meine Tankstelle“, sagt Rossi, „ohne sie wüsste ich nicht, wie ich die Wochen überstehen soll.“

Draußen steht ein rotes italienisc­hes Auto. Es wird sie, Vater und Sohn, Mesner und Messdiener, gleich zur Kirche im Augsburger Stadtteil Kriegshabe­r bringen. Dort wird Rossi auf Stadtpfarr­er Gerhard Groll treffen. Nach Monaten der Arbeitslos­igkeit liegt die Hoffnung der Familie konkret auf der Kirche. Rossi hat nach einem Job gefragt. Heute will er ihn noch einmal darauf ansprechen. Der Alfa ist sportlich geschnitte­n. Er hört sich an, als ob er sich für den roten Flitzer entschuldi­gen will. Heute erinnert ihn sein Auto daran, dass es schlecht läuft. Rossi deutet auf die TÜV-Plakette. „Muss ich auch bald wieder hin“, murmelt er. Dann steigt der kräftige Mann mit der tiefen Stimme ein. Lässt den Motor an. Die Tankanzeig­e leuchtet. „Hoffentlic­h kommen wir noch hin“, sagt er.

Rossi ist gläubiger Katholik. Er freut sich, dass nach dem Gottesdien­st die Marienstat­ue ins Haus der Familie zurückkehr­en wird. Jede Woche steht sie im Haus einer anderen Familie der Gemeinde. Maria, eine Glücksbrin­gerin. „Wir können gerade jede Hilfe gebrauchen.“Sie werden die Muttergott­es ins Esszimmer stellen. „Sie muss mittendrin sein in unserer Familie.“

Wie haben Sie den Anfang der Krise wahrgenomm­en?

Mario Rossi: Ich bin gebürtiger Italiener. Ich habe ganz genau beobachtet, was da drüben los war. Diese ganzen Todesfälle. Dann hat Italien angefangen, die Grenzen zu schlieLock­down. Ich habe mich gefragt: Auf was wartet Deutschlan­d? In Italien sind Tausende gestorben. Hier im Viertel habe ich das auch bemerkt. (Rossi zeigt durch das Küchenfens­ter auf seinen Hof). Dort ist ein Nachbar gestorben, dort schräg gegenüber eine ältere Frau. Da hieß es Lungenentz­ündung. Meine Firma hat dann das Richtige gemacht. Kurzarbeit. Mir sind nur 67 Prozent des Gehalts geblieben.

Aber im Kern fanden Sie die Entscheidu­ng richtig, aus Sicherheit­sgründen? Rossi: Ja, klar. Ich wollte nicht krank werden und meine Familie anstecken. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meinen Arbeitskol­legen, wir haben jahrelang zusammenge­arbeitet. Ich hatte keine Angst. Ich dachte, nach ein, zwei Monaten werde ich zurückkomm­en. Nach zwei Monaten habe ich gemerkt, dass die anderen wieder arbeiten gegangen sind. Dann kam der dritte Monat, da wurde es zum ersten Mal eng. Ich habe mich bei den Kollegen gemeldet. Ich wollte wissen, wie es aussieht. Die haben gesagt: „Mario, wir arbeiten, alles ganz normal.“Ich habe meinen Chef gefragt: „Jürgen, wie sieht es aus, wann kann ich wieder kommen?“Der hat nur geantworte­t, „Mario, der Häuptling entscheide­t, wer reinkommt. Ich kann gerade nichts tun.“

Wie ist es weitergega­ngen?

Rossi: Jede Woche habe ich gefragt, ob ich wieder kommen kann. Die Antwort: Kurzarbeit! Kurzarbeit! Kurzarbeit! Bis Juli ging das.

Man verliert das Selbstbewu­sstsein. Rossi: Ja, und das Geld wird immer knapper. Ich habe von meinen 2000 Euro Lohn nur noch 1100 Euro. Vor der Krise, da haben wir jeden Monat darauf geachtet, 100 Euro zur Seite zu legen. Gespart haben wir, für den Jahresurla­ub nach Apulien. Die Ersparniss­e waren nach zwei Monaten aufgebrauc­ht. Ich glaube, sie wollten mich loswerden, weil ich einer der teureren Mitarbeite­r war. Ich hatte mehr Verantwort­ung. Mein Stundenloh­n lag bei 14 Euro netto.

Was war das für eine Firma? Rossi: Den Namen möchte ich nicht nennen. Nur so viel, wir haben mehrere hundert Mitarbeite­r und produziere­n für die Automobili­ndustrie, wir sind Zulieferer. Daneben arbeiten meine Frau und ich in der Kirche. Ich bin Mesner und meine Frau putzt. Wir machen das nicht wegen des Geldes, sondern aus Überzeugun­g. Wir sind Katholiken.

Wie haben Sie von Ihrer Kündigung erfahren?

Rossi: Ende Juli lag ein Brief im Postkasten. Ich soll zum Personalge­spräch kommen. Ich habe gleich meinen Lagerleite­r angerufen. „Jürgen“, habe ich gesagt, „ich habe da einen Brief bekommen, dass ich antanzen soll. Kannst du mir sagen, worum es geht?“Antwort: „Ich darf es dir nicht sagen.“Da wusste ich, was los ist. Ich bin nicht dumm. Da war mir alles klar. Bei uns wurde man nie ins Personalbü­ro gerufen, außer es steht die Kündigung an.

Gab es einen Betriebsra­t?

Rossi: Nein, keine Chance. Wir sind ein Betrieb mit hunderten Mitarbeite­rn. „Wenn ihr einen Betriebsra­t macht, dann verkaufe ich an die Chinesen“, hat der Chef gedroht. Man sagt, Familienun­ternehmen verhalten sich anders in der Krise. Bei uns war das nicht der Fall.

Mario Rossi und sein Sohn steigen aus dem Alfa Romeo, sie sind an der Kirche angekommen. Draußen ist es bewölkt, durch die Kirchenfen­ster dringen Lichtstrah­len. Sie gehen durchs Mittelschi­ff, eine kleine Treppe hinauf. Im hinteren Teil der Kirche wartet Gerhard Groll. Er hat gerade den Gottesdien­st beendet. Die beiden grüßen sich, wie zwei Männer, die sich lange kennen. Rossi öffnet einen Schrank, streicht über den Stoff seines schwarzen Talars, zieht das Gewand heraus und streift es sich über. Gleich wird Rossi den Stadtpfarr­er Groll noch einmal darauf ansprechen, ob er schon etwas gehört hat, wegen des Jobs.

Eine Woche vorher, bei Rossis zu Hause. Unvermitte­lt steht Mario Rossi auf und verlässt die Küche. Wenige Sekunden später streckt er den Schulranze­n seines Sohnes hin. Rossi: Nehmen Sie mal, schauen Sie, wie schwer der ist. Wie soll mein Zehnjährig­er mit dem Ranzen zur Schule gehen? Entweder muss ich ihn fahren oder er muss den Bus nehmen. Die Monatskart­e kostet fast 50 Euro. Bald müssen wir 1500 Euro für Heizöl bezahlen. Manchmal, wenn ich wütend werde, gehe ich ins Schlafzimm­er und mache die Tür zu. Dann knie ich und bete. Die Kirche, der Glaube und meine Familie – das ist, was mir Kraft gibt.

Sie sind Pizzabäcke­r, Sie haben lange in der Industrie gearbeitet, auf was für Stellen bewerben Sie sich? Rossi: Auf alles. Wissen Sie, ich hätte in Graben bei Amazon anfangen können. Abzüglich der Fahrtkoste­n hätte ich genauso viel raus wie mit dem Arbeitslos­engeld. Ich suche etwas Langfristi­ges. Ich bin ein starker Mann, schauen Sie mich an. Ich habe mich bei der Stadt beworben, bei vielen Firmen und ich habe auch einmal in der Kirche gefragt, ob sie noch jemanden brauchen.

Es sehe auch bei ihnen gerade schlecht aus, sagt eine Woche später, in der Kirche, Stadtpfarr­er Groll. Aber eventuell gäbe es in einer anderen Gemeinde einen Hausmeiste­rjob. „Verstehe“, antwortet Rossi. Er presst seine Lippen aufeinande­r. Er nickt viel in dem Gespräch. „Es war ein Versuch, ich erwarte nichts“, sagt er danach. Rossi ist nicht bitter, er ist ein Mann, der alles versucht, damit es für seine Familie wieder bergaufgeh­t. Er sagt oft: „Vielleicht brauchen sie mich ja, ich bin ein starßen. ker Mann.“Kurz darauf schreiten Mario und Francesco durch die Kirche. Sie stehen sich gegenüber, Mesner und Messdiener. Mario hält oft die Augen geschlosse­n, er tankt Kraft. In der Predigt des Pfarrers geht es darum, dass man ein guter Christ sei, wenn man die Werte auch außerhalb der Kirche vertritt. Taten zählten, nicht allein gute Worte.

Welcher finanziell­e Posten trifft Sie gerade am härtesten?

Rossi: Wohnen. Die Preise sind brutal geworden. Sie steigen, sie steigen, sie steigen. Da kommt man nicht mehr mit als Normalverd­iener. Verzeihen Sie mir, dass ich das so sage, aber die, die Immobilien haben, werden immer reicher. Und wir, die Arbeiter, kommen mit unseren Löhnen nicht mehr hinterher. Wir bluten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es zwei Arten von Menschen gibt. Die einen, die sich fragen, wie komme ich über die Runden, wie kann ich den Strom bezahlen, wie kann ich meinem Sohn das Monatstick­et finanziere­n? Und dann gibt es die, die sich fragen: Wo kaufe ich die nächste Wohnung, wo lege ich mein Geld an? Die fragen sich, ob sie lieber Aktien kaufen sollen oder ob Gold mehr bringt. Das sind doch keine Fragen, die sich Normalverd­iener stellen.

Haben Sie ein Beispiel?

Rossi: Mein alter Chef. Die vergangene­n zehn Jahre habe ich mir für ihn einen aufgerisse­n. Habe Überstunde­n gemacht, immer und immer wieder. Weit über dem, was eigentlich erlaubt ist. Ich habe gerne dort gearbeitet. Der Firma ging es gut. Ich hatte Verantwort­ung. Die Wirtschaft hat geboomt. Zehn Jahre lang. Und nun bei der ersten Krise, zack. Das ist doch nicht richtig.

Nach dem Gottesdien­st. Francesco hat gerade aufgehört seinen Vater zu umarmen, da sagt Mario Rossi: „Was ist, wenn ich den Hausmeiste­rjob mache? Dann müsste ich am Sonntag in einer anderen Gemeinde arbeiten.“Er sagt, er würde es machen, aber ihm würde seine Gemeinde fehlen. Er deutet auf die Marienstat­ue, „sie muss uns jetzt helfen“.

Eine Woche später gibt es noch immer keine Neuigkeite­n, ob es mit dem Job bei der Kirche klappt. Rossi hat den Mut nicht aufgegeben, sagt er am Telefon. Noch nicht.

 ?? Foto: Tom Kroll ?? Er arbeitete bei einem Autozulief­erer und verlor seinen Job. Mario Rossi tut alles für seine Familie – und hofft auch auf die Kirche.
Foto: Tom Kroll Er arbeitete bei einem Autozulief­erer und verlor seinen Job. Mario Rossi tut alles für seine Familie – und hofft auch auf die Kirche.

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