Neuburger Rundschau

Der Schatz des Lebens

Senioren haben es schwer in der Ukraine. Jetzt können sich viele von ihnen nicht mal mehr ihre Medikament­e leisten. Ein kleines Hilfsproje­kt aus Süddeutsch­land unterstütz­t sie. Doch die Folgen der Pandemie stellen auch die Helfer aus Deutschlan­d vor enorm

- VON TILL MAYER

Lwiw Als Olga Gashchyts im ukrainisch­en Lwiw von Nummer 130 spricht, ruhen ihre Hände. Das leichte Zittern verschwind­et. „Nummer 130 war das schönste Schmuckstü­ck, das ich jemals gemacht habe. Ein schmaler Ring, mit einem roten Stein besetzt. Den fassten goldene Blätter ein“, beschreibt ihn die 75-Jährige. In ihrer Stimme schwingt viel Stolz mit. Sie erzählt vom großen Zeitaufwan­d, den sie mit dem Ring hatte. „Besonders teuer war er für den Kunden dann trotzdem nicht“, sagt die alte Frau, „aber es sind doch Details, die das Leben schön machen. Oder nicht?“

Dann ist es einen Moment still in ihrer Küche. Das kleine Zimmer mit dem betagten Gasofen, in dem es so aussieht, als wäre die Sowjetunio­n nie verblichen. Kaum etwas ist hier jünger als 40 Jahre. Auch beim Blick durch die Fenster scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Graue Wohnblocks aus sozialisti­schen Zeiten reihen sich aneinander. Von der nahen Schule dringen die Stimmen von Kindern und Jugendlich­en in den fünften Stock herauf.

Olga Gashchyts Hände beginnen wieder ganz leicht zu zittern. Es ist lange her, dass sie Schmuck mit ihnen fertigte. Über 35 Jahre schon. Damals wehten noch die roten Fahnen der Sowjetunio­n in der westukrain­ischen Stadt. Schmuck galt als eine Verheißung und der Beruf von Olga Gashchyts als angesehen. Sie liebte ihn. Es schien, dass endlich etwas Glück in ihr Leben gekommen war. Nach all den schweren Jahren, die sie zuvor erlebt hatte.

Nun ist es wieder eine schwere Zeit für sie, wenn auch anders. Olga

Gashchyts ist krank und auf Hilfe angewiesen. Doch die Helfer benötigen selbst Hilfe: Die Corona-Pandemie stellt sie vor Herausford­erungen, die sich auch auf die 75-Jährige auswirken.

Dazu aber später. Erst will sie noch von früher erzählen. Stalins neue Grenzziehu­ngen samt Umsiedlung­en trieben nach Kriegsende ihre Familie in die ukrainisch­en Karpaten. „Obwohl wir dort in einer Kolchose arbeiteten, gab es nach dem Krieg nicht genug zu essen. Bis ich dreieinhal­b Jahre alt war, hat mir meine Mutter die Brust gegeben. Sonst hätte ich wohl nicht überlebt. Ich war ein kleines, mageres Ding. Ich habe lange geweint, als sie mich nicht mehr stillte“, sagt sie.

Als Baby verbrannte sie sich an einem Ofen. Brandnarbe­n blieben an den hinteren Beinpartie­n. Mit den Jahren verschwand der Hunger, aber nicht die Armut. Und die junge Olga lernte, sich über die kleinsten Dinge riesig zu freuen. Nur die Narben setzten ihr zu. „Ich habe mich so hässlich mit ihnen gefühlt“, sagt sie an ihrem Küchentisc­h. Bei ihrer Ausbildung in Lwiw blühte sie dann auf. Raus aus dem tristen Kolchosele­ben in die Stadt, sie genoss es. Die 1970er Jahre hatten begonnen.

Lange her. Die 75-Jährige holt jetzt ein Fotoalbum und legt es auf den Tisch. Eine bildschöne Frau ist auf einem Schwarz-Weiß-Bild zu sehen. Im Hintergrun­d ragen Hochhäuser auf: ein Erholungsh­eim. „Das war, als wir mit unserem Kollektiv auf Urlaub in die Berge gingen“, erklärt die Seniorin. Es war einer ihrer glücklichs­ten Tage. „Ich hatte mich sogar getraut, ein Kleid anzuziehen, das nicht bis zu den Knöcheln ging. Sehen Sie“, sagt sie mit leiser Stimme. Großformat­ige Blumen sind auf das knielange Kleid gedruckt, das sie auf dem Foto trägt. Die junge Olga fährt sich darauf mit einem Lächeln mit der Hand durch das lange dunkle Haar.

Wenig später beginnt ihre Krankheits­geschichte. Zu Beginn sinken die Hämoglobin­werte bedrohlich. Olga Gashchyts isst „alles Obst und Gemüse, das rot ist“. Das rät ihr ein Arzt. Dann erhält sie starke Medikament­e. Sie machen sie schwindeli­g, sie verliert mehr und mehr an Kraft. Anfang der 1980er Jahre geht sie dann aus Gesundheit­sgründen in Pension. Sie ist noch keine 40 Jahre alt. Die Diagnose erschütter­t sie: Krebs. Es kommen Operatione­n. Im Laufe der Jahre muss ihr eine Niere entfernt werden.

Die Krankheit bestimmt seither Olga Gashchyts Leben. Es gibt Aufs und Abs, aber der Schmerz bleibt stets ihr zuverlässi­ger und verhasster Begleiter.

„Zu langes Sitzen schmerzt, zu langes Stehen kostet zu viel Kraft“, sagt die alte Frau. An ihre geliebten Spaziergän­ge ist schon lange nicht mehr zu denken. Nachbarin Rita kommt hin und wieder vorbei, erledigt Kleinigkei­ten. „Sie ist ein Goldstück“, meint die Seniorin. „Vom städtische­n Sozialamt erhalte ich auch Hilfe, zum Fensterput­zen oder Einkaufen“, erklärt sie.

Und dann ist da noch die Rotkreuz-Schwester Nadja Masiuk. Sie kommt regelmäßig, um nach dem Gesundheit­szustand von Olga Gashchyts zu sehen. Und auch, um ihr kostenlos Medikament­e und Schmerzmit­tel zu bringen. Das ermöglicht ein kleines Projekt des Badischen Roten Kreuzes, das auf Privatinit­iative beruht. Es ermöglicht auch, dass ab und an Nadja Masiuk ein Lebensmitt­elpaket für die Rentnerin mitbringt. Doch das Rote Kreuz im fernen Deutschlan­d steht durch Corona vor einem Problem, an das viele hierzuland­e nicht als Erstes denken würden. Durch die Pandemie fehlen den Helfern Einnahmequ­ellen – unter anderem für ihr Hilfsproje­kt in Lwiw. Von Vorträgen bei Kirchengru­ppen über Kinoabende und Schulaktio­nen bis hin zum Glühweinve­rkauf für den guten Zweck wurde alles abgesagt.

Viele kleine Initiative­n in Deutschlan­d sind auf die Nähe zu ihren Spendern angewiesen. Ihnen brechen nun oft Einnahmen völlig weg, mit denen sie in den vergangene­n Jahren fest rechnen konnten. Nach Angaben des Deutschen Zentralins­tituts für Soziale Fragen sind die Spendenein­nahmen der großen Spendenorg­anisatione­n in Deutschlan­d im ersten Halbjahr 2020 zwar angewachse­n. Bei kleineren Hilfswerke­n ist das jedoch ganz anders. Laut einer Befragung sind bei nur 29 Prozent der kleineren Organisati­onen – bis eine Million Euro Spendenein­nahmen – die Geldspende­n von Januar bis August 2020 gestiegen, bei 38 Prozent von ihnen sind sie gesunken.

„Meine Rente beträgt 2240 Hrywna“, sagt Olga Gashchyts. Umgerechne­t sind das 66,30 Euro. „Wenn ich Lebensmitt­el, Strom und Heizung bezahlt habe, ist das Geld weg. Ich könnte mir nicht einmal die schmerzlin­dernden Medikament­e leisten. Sie nicht zu haben, das wäre furchtbar. Der Krebs quält mich schon jetzt genug.“

Die Seniorin weiß, dass die Verteilung ihrer Medikament­e ausschließ­lich durch private Spender ermöglicht wird. „Dass das eines Tages nicht mehr der Fall sein könnte, davor habe ich wirklich Angst“, fügt sie hinzu.

„Es ist gut, nicht mit leeren Händen zu den Klienten zu kommen. Das passiert viel zu oft im Land“, wirft die 59-jährige Krankensch­wester Nadja Masiuk ein. Umgerechne­t 55 Euro beträgt die Mindestren­te. 4,2 Millionen ukrainisch­e Rentner aber haben weniger als 60 Euro Rente im Monat zur Verfügung. Davon müssen sie einen Großteil ihrer Medikament­e bezahlen. Im Radio hört Olga Gashchyts nun von der zunehmende­n Ausbreitun­g der Pandemie. Lwiw ist schwer betroffen, das Gesundheit­ssystem mit der Situation überforder­t, und ihr seltener Besuch kommt schon lange mit Maske über Mund und Nase. „Natürlich weiß ich, dass meine Nachbarin oder die Helferinne­n das Virus zu mir bringen können. Das wäre vermutlich mein Tod. Aber ich bin bereit. Es wird kommen, wie es kommt“, erklärt die Seniorin.

Ihre letzte noch lebende Schwester hätte sie gerne noch einmal gesehen. Die letzte Chance darauf hat ihr Corona vermutlich endgültig genommen. Die ältere Schwester lebt in Donezk. Die Stadt steht unter Kontrolle der Separatist­en. Seit 2014 forderte der Krieg im Osten des Landes über 13000 Todesopfer. In diesem Jahr kam ein Waffenstil­lstand zum Tragen, der erstmals weitgehend hält. Doch der kostenträc­htige Konflikt schwächt die Volkswirts­chaft weiter. Er ist zum Milliarden­grab geworden. Die ukrainisch­e Armee steht in Schützengr­äben über hunderte von Kilometern den von Russland unterstütz­ten Kämpfern der Separatist­en gegenüber. Laut Beobachter­n kämpfen aufseiten der Separatist­en neben Söldnern russische Soldaten.

Zu den laufenden Kriegskost­en kommen die wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie. Covid-19 hat die Ukraine stark getroffen. Das sind keine guten Voraussetz­ungen, um das Los der Alten zu verbessern. Ohnehin: Die schlechten wirtschaft­lichen Bedingunge­n treiben seit Jahren junge Ukrainer mit der Hoffnung auf bessere Lebensbedi­ngungen ins Ausland.

Für die beiden Schwestern machen geschlosse­ne Checkpoint­s und das Risiko der Ansteckung schon den Gedanken an eine Reise zum unerfüllba­ren Traum. Ganz abgesehen von ihrem Gesundheit­szustand. „Ich werde meine Schwester wohl nicht mehr sehen. Ab und an leisten wir uns ein kurzes Telefonat. Meist machen wir es aber so: Erbine ruft auf dem Handy an, und die andere drückt gleich weg. Das kostet dann nichts, und wir wissen beide, dass bei der Schwester alles in Ordnung ist“, sagt Olga Gashchyts und senkt den Blick. Sie will nicht, dass ihre Traurigkei­t den Besucher ansteckt. „Trotzdem gibt es jeden Tag etwas, auf das ich mich freue. Meinen Tee. Das ist das Einzige, an dem ich nicht spare, bei dem ich auf sehr viel Qualität achte“, sagt sie.

Ihre Diagnose erschütter­te Olga Gashchyts

Die Sehnsucht nach ihrer Schwester ist groß

 ?? Fotos: Till Mayer ?? Krankensch­wester Nadja Masiuk (links) übergibt Olga Gashchyts Medikament­e.
Fotos: Till Mayer Krankensch­wester Nadja Masiuk (links) übergibt Olga Gashchyts Medikament­e.
 ??  ?? Dankbar für die Medizin, die Helfer aus Deutschlan­d bringen: eine Seniorin in der Ukraine.
Dankbar für die Medizin, die Helfer aus Deutschlan­d bringen: eine Seniorin in der Ukraine.

Newspapers in German

Newspapers from Germany