Neuburger Rundschau

Wie ein Virus Reiseträum­e zerstörte

Corona hat die Welt verändert – für Urlauber ist sie vor allem kleiner geworden. Das Reisejahr 2020 war geprägt von Sorge, Ungläubigk­eit aber auch: Hoffnung. Eine Chronologi­e

- VON PHILIPP LAAGE

Zu Beginn des Jahres 2020 stritt man in Deutschlan­d darüber, ob der Ferienkorr­idor im Sommer verkürzt werden sollte. Die Tourismusb­ranche hatte die Pleite von Thomas Cook zu verdauen. Außerdem nahm das Phänomen „Flugscham“viel Platz in der öffentlich­en Debatte ein. Weniger fliegen für den Klimaschut­z? Darüber wurde teils hitzig diskutiert.

Im Rückblick könnte man also sagen: Im Januar war die Welt des Reisens noch in Ordnung. Die meisten Bundesbürg­er waren im traditione­ll buchungsst­ärksten Monat des Jahres damit beschäftig­t, ihre Urlaubszie­le auszuwähle­n, so wie immer. Zwar gab es Berichte über eine „neue Lungenkran­kheit in China“, doch die Auswirkung­en ahnten wohl die wenigsten. Bis plötzlich alles sehr schnell ging. Das Coronaviru­s SarsCov-2 ging um die Welt – und stürzte den weltweiten Tourismus in seine tiefste Krise.

Februar dunkle Wolken am Horizont. Deutsche Veranstalt­er wie die Tui sagen Reisen nach China ab, doch dort macht im Winter sowieso fast niemand Urlaub. Noch immer scheint es sich eher um ein regionales Problem zu handeln. Mehr Besorgnis rufen Mitte Februar schon die Bilder der „Diamond Princess“hervor. Nach zahlreiche­n Corona-Infektione­n an Bord haben die japanische­n Behörden das Kreuzfahrt­schiff in Yokohama unter Quarantäne gestellt, unter den Fahrgästen sind auch Deutsche. „Angst ist jetzt zu viel“– so schildert ein betroffene­r Pensionär aus München seine Gefühle. Eine treffende Formulieru­ng für die Stimmung, die auch im fernen Deutschlan­d herrscht. Ein festgesetz­tes Schiff irgendwo in Asien, das scheint nichts mit den eigenen Reisepläne­n zu tun zu haben. Das Virus ist weit weg – bis es scheinbar binnen weniger Tage über Norditalie­n hereinbric­ht. Surreale Szenen sind es, die sich hinter dem Brenner in einem der beliebtest­en Reiselände­r der Deutschen abspielen: Gemeinden werden zu Sperrzonen, Bars, Restaurant­s und Geschäfte geschlosse­n, der Markusplat­z in Venedig ist wie leer gefegt. Mit den verstörend­en Bildern zwingt sich der Eindruck auf, dass das Virus nicht mehr aufzuhalte­n ist. Ende des Monats wird die weltgrößte Tourismusm­esse ITB in Berlin abgesagt, wenige Tage vor ihrem Beginn.

März: Das weltweite Reisen kommt abrupt zum Erliegen. Es ist der Monat, der die Welt verändert: Die Pandemie erfasst den Globus. Innerhalb von rund zwei Wochen schließen die meisten Länder ihre Grenzen, der Flugverkeh­r wird eingestell­t, Veranstalt­er sagen sämtliche Reisen ab, touristisc­he Übernachtu­ngen in Deutschlan­d werden verboten und die Ferieninse­ln für Urlauber gesperrt. Die Welt im „Shutdown“– und alle Reisepläne sind plötzlich Makulatur. Von Mexiko bis Thailand hocken Deutsche in Hotelzimme­rn und bemühen sich um die letzten Rückflüge in die Heimat. Die Bundesregi­erung startet die größte Rückholakt­ion in der Geschichte. Das Auswärtige Amt spricht eine weltweite Reisewarnu­ng bis Ende April aus. „Das ist für viele schmerzlic­h, aber absolut notwendig“, stellt Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) fest. Sein Appell: „Bleiben Sie zu Hause!“

April: Rückzug in die eigenen vier Wände. Das Frühjahr ist die Zeit der schwindend­en Horizonte. Der Osterurlau­b: gestrichen. Mallorca, Kreta und Antalya: in weite Ferne gerückt. Von anderen Kontinente­n gar nicht zu sprechen. Die weiteste Reise führt in diesen Tagen meist in den Supermarkt um die Ecke. Zugleich geht für viele Urlauber der Ärger los: Fluggesell­schaften und Reiseveran­stalter lassen sich mit der Erstattung abgesagter Reisen Zeit, verärgern ihre Kunden. Zeitweise

zur Debatte, ob Verbrauche­r Gutscheine statt einer Rückzahlun­g akzeptiere­n müssen. Das setzt sich nicht durch. Doch viele warten ewig auf ihr Geld. Die Reisebranc­he steckt da schon mitten in der Existenzkr­ise. Ende April werden die letzten gestrandet­en Deutschen heimgeholt, 157 Passagiere aus Kapstadt erreichen Frankfurt. Insgesamt hat die Regierung 240000 Reisende nach Hause geholt. Wenige Tage später wird die weltweite Reisewarnu­ng bis Mitte Juni verlängert. Banges Hoffen auf den Sommer. Denn viele wollen am liebsten schon wieder los. Doch dieses Jahr könnte alles anders werden. Von einer Renaissanc­e des Wanderns in heimischen Gefilden ist zum Beispiel die Rede. Fällt Reise-Deutschlan­d zurück in die 1950er Jahre, in eine Zeit vor dem Massentour­ismus mit Charterflü­gen ans Mittelmeer?

Mai: Hoffen auf den Sommer. Im schönen Monat Mai wächst ein zartes Pflänzchen Hoffnung: Die Corona-Einschränk­ungen werden vor Pfingsten gelockert, die ersten Urlaubsgäs­te zieht es wieder an die Nordsee. Doch über allem steht die Frage: Was wird aus dem Sommer, was wird aus „Malle“? Ende des Monats dann die frohe Botschaft: Die Reisewarnu­ng für Touristen soll ab 15. Juni für 31 europäisch­e Staaten aufgehoben werden, sofern die Pandemie das zulässt. Plötzlich sieht es so aus, als könnte Corona schon bald hinter uns liegen.

Juni und Juli: Das Virus scheint (fast) vergessen. Mit etwas Verzögerun­g öffnet auch Spanien wieder seine Grenzen. Manch einer ergreift sofort die Chance und steigt in den Flieger nach Palma oder zu anderen Sonnenziel­en rund um das Mittelmeer. Urlauber zieht es nach Griechenla­nd und Kroatien, nach Frankreich und Portugal. Auch im gebeutelte­n Italien machen wieder viele Menschen Urlaub. Zwar reisen längst nicht alle, aber doch mehr Menschen, als man noch vor wenigen Wochen hätte vermuten können. Viele bleiben im eigenen Land:

Zwischen Hiddensee und Oberstdorf wird es teils krachend voll – die touristisc­he Wiederentd­eckung des Heimatland­es. Der Sommer mit seinen warmen Temperatur­en weist das Virus in die Schranken und ermöglicht wieder relativ viel Reisefreih­eit. Doch es ist eine Reisesaiso­n unter den Bedingunge­n einer globalen Pandemie, die lediglich eine Sommerpaus­e eingelegt hat: Maskenpfli­cht im Flugzeug, Hygienereg­eln in den Hotels, Mallorca ohne Bierkönig. Die eingefleis­chten Kreuzfahrt-Fans müssen sich noch gedulden. Ende Juli laufen wieder erste Schiffe aus, zunächst zu Fahrten ohne Landgänge. „Blaue Reisen“, nennt Tui Cruises das. Auch der große Traum vom Urlaub in den USA muss warten, das Land lässt weiterhin keine ausländisc­hen Touristen rein. Und für mehr als 160 Länder auf der ganzen Welt gilt weiterhin die Reisewarnu­ng. Wer in den Sommermona­ten ins Ausland reist, nutzt ein Zeitfenste­r relativer Sorglosigk­eit – das sich schon bald wieder schließen wird.

August und September: Die Einschläge kommen näher. Dass die Pandemie nicht einfach überstande­n ist, dürfte den meisten klar sein. Experten warnen vor der zweiten Welle im Herbst. Und auch für Urlauber schränken sich die Möglichkei­ten langsam wieder ein. Mit Spanien trifft es ausgerechn­et das beliebtest­e Auslandszi­el: Ab Mitte August gilt wieder eine Reisewarnu­ng für das ganze Land, mit Ausnahme der Kanarische­n Inseln, weil die Infektions­zahlen stark steigen. Das ist kein Reiseverbo­t, aber schreckt bewusst ab. Ende August wird auch die bestehende Reisewarnu­ng für die Länder außerhalb Europas verlängert, wenige Tage später Anfang September folgt die Reisewarnu­ng für die Kanaren. Auch in anderen Ländern Europas schnellen die Corona-Zahsteht len wieder hoch. Der Blick auf die Liste der Risikogebi­ete wird nun obligatori­sch. Das Klein-Klein sich schnell ändernder Regelungen trübt die Urlaubslau­ne. Schon blicken Urlauber voller Sorge auf den Herbst: War das sommerlich­e Reisen etwa nur eine kurze, schöne Ausnahme von der trüben Realität der Pandemie? Die Gewissheit folgt rasch.

Oktober und November: hinein in einen grauen Winter. Als der Herbst anbricht, wird fast allen klar: Die zweite Welle rollt – und mit ihr folgen neuerliche Einschränk­ungen. Große Teile Europas werden bis Ende Oktober zu Corona-Risikogebi­eten, schon sehr bald ist eher die Frage, wo man überhaupt noch hinreisen kann. Auch innerhalb Deutschlan­ds bricht Anfang des Monats Verwirrung aus. Wer aus einem Corona-Risikogebi­et anreist, braucht vielerorts den Nachweis über einen negativen Corona-Test, der aber wiederum Geld kostet. Die Bundesländ­er haben teils uneinheitl­iche Regeln. Unklar ist auch, ob Urlauber ohne Test das Geld für ihre stornierte Buchung zurückbeko­mmen. Chaos pünktlich zu den Herbstferi­en. Es ist ein schwacher Trost, dass die Bundesregi­erung die Reisewarnu­ng für die Kanaren Ende Oktober wieder aufhebt. Und auch, dass die Warnung für manche Länder außerhalb Europas gefallen ist, ermuntert nur wenige dazu, jetzt noch die Koffer zu packen. Schließlic­h folgt der Teil-Lockdown im November. Hotels müssen wieder schließen.

Dezember: Die Skisaison steht zur Dispositio­n. Nicht die „Flugscham“hält die Menschen vom Reisen ab, es ist die Pandemie. Sie dauert an. Kaum jemand denkt noch an Urlaub. Und der Winter wird sehr lang. Mancher Reisende mag sich da an den Sommer zurückerin­nern, ans Ferienhaus in Dänemark und Allgäuer Bergspitze­n, an Latte Macchiato am Lago Maggiore und Tapas in Spanien. Und an die unschuldig­en Zeiten, als über den Ferienkorr­idor gestritten wurde.

Und die Politiker mahnten: „Bleiben Sie zu Hause!“

Immer im Blick: Wofür gelten nun alles Reisewarnu­ngen?

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Im Sommer ging es um den richtigen Abstand – auch am Strand. In Italien wurde sogar über Plastik‰Ver‰ hausungen für Badegäste nachgedach­t. Die Idee wurde jedoch schnell wieder verworfen.
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Die weltweite Reisewarnu­ng stürzte die Reisebranc­he in die Krise. Flugzeuge blieben massenweis­e am Bo‰ den – etwa hier am Flughafen von Teruel (Spanien), der zum Parkplatz mutierte.
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Fotos: dpa Passagiere auf der Diamond Princess mit Mundschutz. Die verstörend­e Irrfahrt des Kreuzfahrt­schiffes, das von den japanische­n Behörden festgesetz­t wurde, sorgte im Februar für Schlagzeil­en.
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Im März startete die größte Rückholakt­ion von Urlaubern in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Hundert‰ tausende, unser Bild zeigt Urlauber in Manila, wurden wegen der Corona‰Gefahr nach Hause geflogen.

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