Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (18)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin. © Projekt Gutenberg
Und Schwester Edith führte ihn und seine Frau zusammen, nachdem sie ihm zuerst für eine ordentliche Kleidung gesorgt und einen Platz an einem städtischen Bau verschafft hatte. Sie verlangte keine Gelübde und Versprechungen von ihm, sie wußte, so einer wie David Holm konnte nicht mit Gelübden gebunden werden; aber sie wollte die Saat, die bisher zwischen den Dornen aufgegangen war, in gute Erde verpflanzen und war überzeugt, daß es ihr gelingen würde.
Und wer weiß, ob Schwester Edith nicht ihr Ziel erreicht hätte, wenn nicht das große Unglück über sie hereingebrochen wäre. Zuerst bekam sie Lungenentzündung, und als diese gehoben war und wir sie bald hergestellt zu sehen hofften, magerte sie im Gegenteil immer mehr ab, und wir mußten sie ins Sanatorium schicken. Aber wie David Holm gegen seine Frau war, das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, Gustavsson. Sie wissen es ebensogut wie ich und alle andern.
Die einzige, die wir in Unkenntnis darüber zu halten versuchten, ist Schwester Edith, weil wir barmherzig gegen sie sein wollten. Wir hofften, sie werde sterben dürfen, ohne es zu erfahren; aber jetzt bin ich nicht ganz sicher, wie es sich damit verhält. Ich glaube, sie weiß es.“„Woher sollte sie es wissen?“„Das Band, das sie mit David Holm verbindet, ist so stark, daß sie sich wohl auf anderen Wegen als den gewöhnlichen Nachricht von ihm zu verschaffen gewußt hat. Und weil sie alles weiß, deshalb hat sie ihn den ganzen Tag zu sprechen verlangt. Sie hat unsägliches Elend über seine Frau und Kinder gebracht, und sie hat nur noch diese wenigen Stunden zur Verfügung, um es wieder gut zu machen, wir aber sind so schwerfällig, daß wir ihr nicht einmal darin helfen können, indem wir ihn herbeischaffen.“
„Aber was hätte es für einen Wert?“fragt Gustavsson hartnäckig. „Sie kann ja gar nicht mit ihm reden, sie ist zu schwach dazu.“
„Ich kann in ihrem Namen mit ihm reden,“versetzt Schwester Maria zuversichtlich. „Und er würde auf die Worte hören, die an ihrem Sterbebette zu ihm gesagt würden.“
„Was wollten Sie zu ihm sagen, Schwester Maria? Wollten Sie ihm sagen, Schwester Edith habe ihn geliebt?“
Die Rettungsschwester steht rasch auf. Sie faltet die Hände über der Brust und betet mit aufgehobenem Gesicht und geschlossenen Augen also:
„Ach lieber Gott, laß es doch geschehen, daß David Holm herkommt, ehe Schwester Edith stirbt! Guter Gott, laß es geschehen, daß er deine Liebe erkennt, und daß das Feuer ihrer Liebe sein Herz erweicht! Guter Gott, ist nicht deine Liebe ihr geschickt worden, daß sie seine Seele läutere? Guter Gott, mache mich mutig, daß ich nicht daran denke, sie zu schonen, sondern es wage, seine Seele in die Glut ihrer Liebe hineinzulegen! Guter Gott, laß ihn diese Liebe empfinden wie ein sanftes Säuseln, das durch seine Seele zieht, wie die Berührung einer Engelsschwinge, wie das rote Licht, das am Morgen im Osten aufleuchtet und die Finsternis der Nacht vertreibt! Guter Gott, laß ihn nicht glauben, daß ich mich an ihm rächen wolle! Guter Gott, laß ihn erkennen, daß Schwester Edith nur den innersten Kern seines Wesens geliebt hat, das, was er selbst zu ersticken und zu ertöten gesucht hat! Guter Gott“
Schwester Maria fährt zusammen und schaut auf. Der Rettungssoldat zieht eben seinen Rock an.
„Ich hole ihn, Schwester Maria,“sagt er mit halberstickter Stimme. „Und ich kehre nicht ohne ihn zurück.“
Aber jetzt wendet sich die an der Tür auf dem Boden liegende Gestalt zu dem Fuhrmann und redet ihn an:
,Georg, ist es noch nicht genug? Als ich zuerst hier hereinkam, wurde ich von dem, was sie sprachen, ergriffen. Auf diese Weise hättest du mich vielleicht erweichen können; aber du hättest sie warnen müssen. Sie hätten nicht von meiner Frau sprechen sollen.‘
Der Fuhrmann gibt keine Antwort, sondern deutet nur mit einer leichten Bewegung nach dem inneren Zimmer. Eine alte Frau ist durch die Tapetentür, die sich ganz hinten in der Wohnzimmerabteilung des Gemachs befindet, eingetreten. Mit leisen Schritten tritt sie zu den beiden, die die lange Unterredung geführt haben, und sagt mit einer Stimme, die im Bewußtsein der Wichtigkeit dessen, was sie mitzuteilen hat, bebt:
„Sie will nicht mehr da drinnen bleiben, sondern hier heraus. Jetzt ist es bald zu Ende.“
VI
Die arme kleine Rettungsschwester, die in den letzten Zügen liegt, fühlt sich mit jedem Augenblick schwächer und kraftloser. Sie hat keine Schmerzen, kämpft aber noch mit dem Tod, wie sie in so mancher Nacht bei einer Krankenwache mit dem Schlaf gekämpft hat.
„Ach, wie schön du lockst! Aber du darfst mich nicht übermannen!“hat sie da zum Schlaf gesagt. Und wenn sich dieser auch einmal einige Augenblicke auf sie herabgesenkt hatte, so war sie doch immer rasch wieder aufgefahren und zu ihren Pflichten zurückgekehrt.
Jetzt ist es ihr, als ob irgendwo in einem kühlen Zimmer mit unbeschreiblich reiner, frischer Luft, die einzuatmen für ihre Lungen ein wahres Labsal wäre, ein tiefes breites Bett mit weichen schwellenden Daunenkissen hergerichtet würde. Sie weiß, daß dieses Bett für sie bestimmt ist, und sie sehnt sich danach, hineinzusinken und ihre unaussprechliche Mattigkeit wegzuschlafen; aber sie hat das Gefühl, sie würde dann in einen so tiefen Schlaf sinken, daß sie nie mehr daraus erwachen könnte. Und sie widersteht dem Locken der Ruhe noch immer; diese darf ihr jetzt noch nicht zuteil werden. Als die kleine Rettungsschwester
jetzt die Augen wieder aufschlägt, liegt ein Vorwurf darin. Sie sieht strenger aus als je vorher.
„Wie hart seid ihr doch, daß ihr mir zu dem einzigen nicht verhelfen wollt, nach dem ich mich sehne!“scheint sie zu klagen. „Habe ich doch, so lange ich gesund war, gar viele Schritte gemacht, um euch allen zu dienen, so daß ihr euch jetzt wohl die Mühe machen könntet, den hierher zu holen, den ich sprechen möchte.“
Meist liegt sie indes mit geschlossenen Augen da und wartet und lauscht so eifrig, daß ihr kein Geräusch in dem Häuschen entgeht. Plötzlich hat sie den Eindruck, als sei ein Gast ins äußere Zimmer getreten, der nun dort darauf warte, zu ihr hereingeführt zu werden. Sie schlägt die Augen auf und sieht ihre Mutter flehend an.
„Er steht ja draußen an der Küchentür. Kannst du ihn nicht hereinlassen, Mutter?“
Die Mutter steht auf, tritt an die Tapetentür, öffnet sie und schaut in das große Zimmer hinaus, kommt aber gleich wieder an das Bett her und schüttelt den Kopf.
„Es ist niemand draußen, Kind,“sagt sie. „Niemand als Schwester Maria und Gustavsson.“
Da seufzt die Kranke tief und schließt die Augen aufs neue.
»19. Fortsetzung folgt