Turbulente Zeiten im Bundestag
Noch nie seit der Wiedervereinigung gab es so viele Ordnungsrufe, wie in den vergangenen zwölf Monaten. Nicht nur die AfD, auch die Corona-Pandemie treibt die Zahlen auf Rekordniveau
Berlin Es gibt Bundestagsdebatten, die zerren besonders an den Nerven der Sitzungsleiter. „Ich bin hier kurz vor dem Wahnsinn, wenn ich Ihnen das sagen darf“, entfuhr es beispielsweise Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki bei einer besonders turbulenten Sitzung Ende Oktober, als der FDP-Politiker oben auf dem Präsidentenplatz über dem Rednerpult des Parlaments wachte. So wie ein Lehrer unbotmäßigen Schülern einen Verweis erteilen kann, greifen die Parlamentspräsidenten bei ungebührlichem Verhalten der Abgeordneten zum Ordnungsruf oder zur Rüge. Und noch nie seit der Wiedervereinigung gab es davon im Bundestag so viele wie im abgelaufenen Jahr 2020.
Nicht nur der Ton im Parlament ist rauer geworden, seit im Jahr 2017 die AfD als stärkste Oppositionspartei erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Auch die Corona-Pandemie tut ihr Übriges, dass sich die Gemüter häufiger erhitzen als früher. So wie bei ebenjener Sitzung, in der Vizepräsident Kubicki besonders gefordert war, auf die Einhaltung der Maskenpflicht im Plenarsaal zu achten. Sie gilt mit Ausnahme des Sitzplatzes und des Rednerpults auf allen Wegen durch die Reihen oder beim Gang aufs Podium. Manche Maskensünder kommen mit dem Spott der Kollegen davon – wie etwa AfD-Fraktionschef Alexander Gauland.
„Herr Kollege Gauland, ich würde Ihnen empfehlen, wenn Sie den Plenarsaal betreten, die Maske aufzusetzen“, unterbricht Kubicki die Rede einer SPD-Abgeordneten. „Ich nehme an, Sie waren geistig in dem Moment woanders, deshalb haben Sie das vergessen.“Zwischenruf eines Linke-Abgeordneten: „Das ist er immer!“Gauland hält sich ertappt die Hand vors Gesicht und huscht zu seinem vorderen Chefplatz in der rechten Reihe.
Während es Kubicki bei Gauland bei einer Ermahnung belässt, bekommt der langjährige Unionsfraktionschef Volker Kauder die volle Härte zu spüren: „Herr Kollege Kauder, auch Ihnen erteile ich einen Ordnungsruf. Das Zeigen der Maske alleine führt nicht weiter.“Der gescholtene CDU-Mann stöhnt uneinsichtig: „Mein Gott!“Kubicki: „Ja, Sie können sagen: Mein Gott! wir haben eine Verfügung und halten uns daran, oder wir haben keine. Das gilt auch für die CDU/CSU-Fraktion.“
Auch der CDU-Mann Roy Kühne, die inzwischen parteilose ExAfD-Chefin Frauke Petry und der SPD-Politiker Sönke Rix bekommen einen Ordnungsruf wegen Maskenverstoßes in die ewigen Parlamentsakten eingetragen: Schließlich drohen in diesen Fällen auch Normalbürgern in vielen Bundesländern von Politikern beschlossene saftige Geldstrafen.
Allein im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Ordnungsrufe auf ein Rekordniveau: Laut Parlamentsprotokollen und einer unserer Redaktion vorliegenden Aufstellung des Bundestags gab es allein im vergangenen Jahr 20 Ordnungsrufe. Das sind mehr als in allen vier vorausgegangenen Legislaturperioden seit 2002 zusammen. In den drei Jahren seit der Wahl 2017 zählt der laufende Bundestag nun insgesamt 38 Ordnungsrufe, so viele wie seit drei Jahrzehnten keine Parlamentsperiode nicht mehr.
Die meisten Ermahnungen fielen in Zusammenhang mit der AfD. Zwei Drittel aller Ordnungsrufe in dieser Legislaturperiode trafen Vertreter der Rechtspopulisten direkt, einige weitere gingen an Vertreter anderer Parteien, die sich provozieren ließen und in Zwischenrufen auf AfD-Redner reagierten. Meist fiel dabei auf beiden Seiten das Wort „Hetzer“. Allein sechs Ordnungsrufe kassierte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, die beispielsweise den Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Marco Buschmann als „Terroristen“beleidigte.
Allerdings ging es in der alten „Bonner Republik“noch turbulenter zu als in der heutigen Berliner Ära: In der zehnten Wahlperiode, als 1983 nach dem Wahlsieg des CDU-Kanzlers Helmut Kohl erstmals die Grünen in den Bundestag einzogen, verzeichnete die Parlamentsstatistik 132 Ordnungsrufe und zwölf Rügen. Unvergessener Höhepunkt war, als der Grüne Joschka Fischer 1984 dem CSUBundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen entgegenrief: „Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch.“Und der Zahlen-König mit 77 erhaltenen Ordnungsrufen ist bis heute der einstige SPD-FraktiEntweder onschef Herbert Wehner. Als Zwischenrufer brüllt er CDU-Abgeordneten gerne mal „Waschen Sie sich erst mal!“oder „Sie sind ein Schwein, wissen Sie das“entgegen.
„Wir sollten die Zahl der Ordnungsrufe nicht dramatisieren“, sagt denn auch FDP-Parlamentsvizepräsident Wolfgang Kubicki. „Sicher gibt es auch Abgeordnete, die durch bewusste Provokationen Ordnungsrufe geradezu herausfordern“, betont er. „Das Präsidium des Deutschen Bundestages war und ist aber immer in der Lage, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl auf diese Unbotmäßigkeiten zu reagieren.“
Dennoch kritisiert der stellvertretende FDP-Chef, dass das Einschreiten des sitzungsleitenden Präsidenten oft bewusst provoziert werde, wodurch die Härte von Sanktionen nötig würde. „Abgesehen davon kann es in hitzigen Debatten immer einmal vorkommen, dass einem Redner die eine oder andere Formulierung misslingt“, sagt Kubicki. „Trotzdem würde ich mir durchaus mehr streitige Debatten im Bundestag wünschen“, betont der Liberale. „Solange sie in einem Geist der Fairness ausgetragen werden, ist gegen einen harten Ton nichts einzuwenden.“
ExFraktionschef Kauder stöhnt uneinsichtig
Solange alles fair bleibt, darf der Ton auch hart sein