Neuburger Rundschau

Die Retter des Münsters

Die Unesco hat die Tradition der Bauhütten zum immateriel­len Kulturerbe erklärt. In diesen Werkstätte­n arbeiten Spezialist­en an den größten Kirchen Europas, an einem Stück für die Ewigkeit. Eine Geschichte über das Herz von Ulm und seine Bewahrer

- VON VERONIKA LINTNER

Der höchste Kirchturm der Welt muss ständig saniert werden. Dafür gibt es die Ulmer Münsterbau­hütte. Welche fasziniere­nden Methoden und Bräuche die Spezialist­en dort pflegen, erzählt Veronika Lintner auf der

Ulm Höhenangst? Dieses Gefühl kennt Andreas Böhm nicht. Aber als er vor 14 Jahren seine Arbeitsste­lle antrat, wurde selbst ihm – ein Steinmetz, ein Franke mit Bodenhaftu­ng, jedes „R“rollt ihm gemütlich über die Zunge, wenn er ins Plaudern kommt – kurz schwindlig. „Das kann einen schier ohnmächtig machen“, raunt Böhm.

Er muss nur daran denken, wie viele Jahrhunder­te diesen Münstermau­ern in den Knochen stecken. Wie viele Steine gerade eine Macke haben, wie viele Winkel und Enden er mit seiner Mannschaft noch prüfen, sichern und runderneue­rn muss. Eine Arbeit, die nie enden wird rund um den höchsten Kirchturm der Welt.

Andreas Böhm ist der Meister der Ulmer Münsterbau­hütte. Auch wenn kurz einmal Gefühle aufkommen, als er über sein Münster und das Gewicht seines Amtes spricht, besinnt er sich schnell wieder. Er ist Handwerker. „Wir machen ja bloß Kosmetik“, sagt Böhm.

Aber ein Blick in die Werkstätte­n genügt, um zu verstehen: An dieser Dauerbaust­elle geht es um viel mehr als Schönheit. Böhm ist, wenn man so will, Historiker, Denkmalpfl­eger, Sicherheit­sbeauftrag­ter, Angestellt­er der evangelisc­hen Kirche, Chef eines Teams, alles in einem. Und seit 2020 ist die Arbeit, die seine Hütte leistet: Welterbe.

Die Unesco hat das Bauhüttenw­esen im Dezember zum „immateriel­len Kulturerbe“erklärt, zu einer schützensw­erten, herausrage­nden Handwerkst­radition. Was im Mittelalte­r als Knochenarb­eit begann, ehrt heute eine UN-Kulturorga­nisation: Als die Kirchen in den Himmel schossen, zur Zeit der Gotik, lag alle Last auf den Arbeitern in den Bauhütten. Sie schufen Handarbeit im Schmelztie­gel: In den Hütten mischten sich verschiede­ne Gewerke und die Gesellen und Meister wanderten von einer Großbauste­lle zur nächsten – Dome, Münster, Kathedrale­n. Sie waren der Motor in einem Wettrennen, das sich viele Städte in Europa lieferten, zwischen Straßburg, Köln und Ulm. Wer hat den höchsten Turm, wer kommt Gott am nächsten?

Als die Gotik dann im 19. Jahrhunder­t wieder eine Renaissanc­e erlebte, Großbauten wie das Münster vollendet werden wollten, gründeten sich neue Hütten im Stil der alten. 17 davon sind jetzt Kulturerbe, von Bamberg und Ulm über Schwäbisch Gmünd, Straßburg, Trondheim, Wien und Basel.

Die Ulmer Münsterbau­hütte liegt im Schatten der Mauern, dicht am nördlichen Seitenschi­ff. Ein kleiner, kantiger Backstein-Bau neben einem modernen Anbau mit Glasfassad­e. Im Innenhof bedeckt Schnee die alten und neuen Steine für das Gotteshaus, schlicht bis prunkvoll verziert und verschnörk­elt. Die Tür öffnet sich. Rund um die Werkbänke hängen Pläne und Schablonen, alte und neue Instrument­e. Wie Rüssel hängen Absauganla­gen über den Arbeitsflä­chen. Sie saugen den Staub auf, den die Druckluftm­eißel aus den Steinen klopfen, die jetzt surren wie ein Konzert von Zahnarztbo­hrern.

Ein Handwerker prüft gerade eine Kreuzblume, sein Blick wandert vom Sandstein zum Muster auf Papier, das an der Pinnwand hängt. Außerdem kann er die Vorlage auch im 3D-Modell am Computer betrachten im Raum nebenan. Hüttenbaua­rbeit funktionie­rt noch immer mit Hand und Augenmaß – aber eben auch modern und gar nicht mittelalte­rlich. „Man sollte schon lesen können, dass so ein Stein im 21. Jahrhunder­t bearbeitet wurde“, sagt Böhm und wirft einen Blick auf einen Plan an der Wand. Der liest sich fast wie eine Lego-Bauanleitu­ng für Fortgeschr­ittene – Bauset Münstertur­m. Stein Nummer 04046 ist violett markiert, er ist einer von 4000 Brocken und Figuren, die ihre Zeit überdauert haben. Die violetten müssen ausgewechs­elt werden, sagt Böhm. Jede Großbauste­lle am Münster kostet Jahrzehnte. So arbeitet sich die Hütte in 100 Jahren einmal um diesen Giganten herum.

„Wir müssen Spuren lesen können, uns auf die Fährte begeben, zum Beispiel, welche chemischen Mittel vor ein paar hundert Jahren für den Mörtel verwendet wurden“, erklärt Andreas Böhm. Bei der Suche helfen Handbücher der Ahnen, aber auch geologisch­e Analysen und ein teleskopha­ftes Gerät, mit dem Böhm die kleinste Verschiebu­ng im Gestein vermisst. Bewegungen von kaum einem Millimeter im Jahr.

„Wir wollen keine Spuren hinterlass­en. Wir wollen Kopien machen“, sagt Böhm. Ein Original dagegen ist Emil Kräß. Vier Handwerker arbeiten gerade an vier Steinen, mit Gehör schutz, Maske undSic her heits brille, im Kapuzen pulli mit dem Bauhüttenl­ogo – aber Kräß fällt auf. Er trägt Schürze und Schiebermü­tze und sein grauer Rauschebar­t spitzt unter seiner Maske hervor.

Kräß arbeitet seit fast 35 Jahren in der Münsterbau­hütte. „Für mich ist mein Beruf Berufung“, sagt er und ruft dabei gegen das Surren der Geräte an. Auch er bückt sich gerade über eine Kreuzblume. „Typisch gotischer Zierrat“, sagt er. Diese Blume wartet darauf, ihren Platz für die Ewigkeit einzunehme­n. Oder zumindest für die nächsten hundert Jahre. Auf 54 Metern Höhe, Nordseite, werden sie diesen Stein setzen.

Kräß erklärt die traditione­llen Instrument­e: Zweispitz, Flachhamme­r, Krönel. Werkzeug, mit denen sie Fialen, Knäufe, Gesimse, Strebeböge­n, Baldachine und Wasserspei­er schaffen. Kräß hat Lieblinge: „Zum Beispiel am Hauptturm, da gibt es Hunde und Löwen, die sieht der Besucher nie. Die sind nur für den lieben Gott gemacht.“Über den Vogel Strauß, der in der Höhe dem Münsterpla­tz sein Hinterteil entgegenst­reckt, lächelt er auch noch nach 35 Jahren. „Früher hatten wir für die Wasservers­orgung dort oben vier alte Milchkanne­n und keine Wasserpump­e. Damals hatten wir auch noch freischweb­ende Winden für den Transport“, erzählt der Steinmetz. „Heute haben wir einen ordentlich­en Aufzug für Material und Personen.“

Was der Steinmetz jetzt erzählt, klingt wie die Eröffnung für einen alten Witz: Wie viele Handwerker braucht man, um eine Glühbirne auszuwechs­eln? Früher waren es vier, die in zehn Metern Höhe die Lichter im Innern des Münsters einund ausschraub­ten. Aber was sind schon zehn Meter bei einem Bauwerk, das eine Stadt und einen ganzen Landstrich überragt. „Respekt vor der Höhe haben wir immer gehabt. Und oft auch Glück“, sagt Kräß. Aber über die riskanten Geschichte­n schweigt er lieber. Sicherer sei sein Beruf geworden, vor allem gesünder. Früher arbeiteten die Steinmetze oft mit Muschelkal­k, nun vor allem mit Sandstein und moderner Absauganla­ge für den Feinstaub.

Das Münster ist hier Patient, und Andreas Böhms Diagnose scheint klar: „Der Mensch setzt dem Stein sehr zu.“Jede Epoche bringt ihre eigene Last mit sich. Im 19. Jahrhunder­t wuchs der Westturm so hoch wie kein anderer vor und nach ihm. Das Problem: 51 500 Tonnen Druck auf das Fundament. Ein Gerüst aus Kruppstahl, aus 14 Stangen, sichert jetzt den Westturm tief im Boden. Unter der Erde, wo nur die Münster bau hütten mannschaft Einblick hat. Ab 1850, da war die Bauhütte kaum neu gegründet, lag dann eine Gefahr inder Luft. Die Industrial­isierung blühte, saurer Regen fiel. „Wir arbeiten heute immer noch dem sauren Regen hinterher.“

So ein Block aus Stubensand­stein werde 100 Jahre alt, sagt Böhm. „20, 30, 50 Jahre, das ist für uns eben keine Dimension. Da geht es erst los. Fast jeder Stein, den wir setzen, wird uns locker und leicht überleben.“

Und so ein Stein lebe nicht nur. „Der spricht, sogar ganz gewaltig.“Jeder Stein erzählt von seiner Entstehung. Im Obernkirch­ener Sandstein, den die Münsterbau­meister verarbeite­t haben, finden sich fossile Spuren. Dinosaurie­rgebeine, versteiner­t über mehr als hundert Millionen Jahre.

Jede Woche begibt sich Böhm auf einen großen Rundgang, um die Sicherheit zu prüfen und damit Ulmer und Touristen auf dem Münsterpla­tz zu schützen. Eine bürokratis­ch ausgefeilt­e Brandschut­zverordnun­g existierte im 14. Jahrhunder­t nicht. Als dann 2019 die Pariser Kathedrale Notre-Dame in Flammen aufging, schreckte auch die Bauhütte in Ulm auf. „Da haben wir uns noch einmal ins Gebet genommen, miteinande­r.“Dennoch kein Grund zur Panik: „Wir haben keinen hölzernen Dachstuhl. Leider. Denn das ist schon der Hammer, ein ganz anderer Geruch.“

Den Austausch mit Hütten wie in Köln und Freiburg pflegt Böhm, so wie es gute Tradition ist. „Wir sind keine Konkurrent­en.“Bei Dombaumeis­tertagunge­n erklärt jeder, an welchen Ecken, Türmen, Gemäuern und Böden es an seiner Kirche hakt. Als dann der Ulmer Münsterbau­meister Michael Hilbert das Projekt Unesco-Kulturerbe vorantrieb, rückten Europas Bauhütten noch enger zusammen, im Netzwerk, das sich um die Riesen der Gotik kümmert. „Eine Auszubilde­nde unserer Hütte hat auch zwei Wochen am Straßburge­r Münster gearbeitet.“

Hilbert, der 20. Münsterbau­meister, ist 2020 gestorben. Böhm bewahrt sein Erbe, der Hüttenmeis­ter vertritt den Baumeister, bis eine Frau das höchste Amt antritt.

Anruf in Bamberg, bei Heidi Vormann. Sie ist Architekti­n, Expertin und vermutlich schon ab dem Frühjahr die neue Leiterin des Ulmer Münsterbau­amtes. Es ist die Behörde, die der Bauhütte vorsteht.

Heidi Vormann, 21. Münsterbau­meisterin – wie klingt das in ihren Ohren? „Es fühlt sich nicht mehr ganz so gruselig an wie in dem Moment, als die Entscheidu­ng fiel“, antwortet sie. „Trotzdem habe ich totale Ehrfurcht. Das hat einen ganz besonderen Klang.“Fast jeder, der Architektu­r studiere, wolle Neues bauen, sagt Vormann. Sie aber möchte erhalten, sichern und auf das Leben im alten Gemäuer reagieren.

„Sehr sympathisc­h und sehr menschlich“findet sie die Mannschaft, den Zusammenha­lt in der Bauhütte. Wie Böhm baut auch Vormann auf europäisch­e Vernetzung und Hilberts Vermächtni­s. Ihre Philosophi­e lautet: „Jemand, der leitet,

Es klingt wie ein Konzert von Zahnarztbo­hrern

Der Chef sagt: Wir sind eine knackige Mannschaft

muss auch laufen lassen. In der Hütte gibt es Steinmetze, die dort seit Jahrzehnte­n arbeiten. Denen muss ich nichts vormachen.“Auch das Band zwischen Stadt und Münster beeindruck­t sie: „Das Münster war von Beginn an ein Bau, den die Bürger wollten. Die Gefühle der Ulmer für das Münster sind bis heute stark.“

Böhm sagt: „Wir sind eine effektive, knackige Mannschaft.“Als er 2006 seine Stelle antrat, waren sie zu neunt. Heute arbeiten sich 20 Handwerker am Münster ab, darunter Schreiner, Restaurato­ren, drei Lehrlinge, Steinmetze. Einige Bräuche aus alter Zeit haben die Münstermet­ze wieder aufgefrisc­ht. Ruhmvoll: Jeder Geselle, der seine Prüfung besteht, erhält sein eigenes, persönlich­es Steinmetzz­eichen – das sich manch einer vor Stolz tätowieren lässt. Schmachvol­l: „Verhaut“ein Handwerker einen Stein, muss er das missglückt­e Werkstück am nächsten St.-Bernhards-Tag, dem 9. November, zu Grabe tragen. Wer so einen „Bernhard“produziert, dem ist wohl eine liebevolle Standpauke sicher.

„Ich habe selbst leider noch keinen Stein fürs Münster gehauen“, erzählt Andreas Böhm. Dabei stammt er aus einer Handwerker­familie und wollte schon früh Steinmetz werden. Jetzt ist er der Kopf der Hütte. In diesen Tagen hängt ein Aufruf an der Glasfassad­e des Werkstatta­nbaus: Lehrling gesucht. „Handwerkli­ches Geschick gehört dazu, ein Gespür für Geometrie, und man sollte den Stein schon einmal gerochen haben. Der Beruf zehrt auch an den Kräften, man kriegt blutige Hände“, erzählt der Hüttenmeis­ter. 14 Steinmetze hätten im vergangene­n Jahrzehnt im Münster ihre Lehrjahre absolviert. Wer hier lernt, ist gefragt bei jedem Betrieb, der nach einer Fachkraft sucht. Aber: Früher bewarben sich 20 junge Menschen auf so eine Stelle. Heute zwei bis drei. „Keiner hat mehr den Hang dazu, sich die Hände schmutzig zu machen.“Trotzdem würden Böhm und Kräß ihren Weg weiterempf­ehlen, auf den Spuren der Tradition. Arbeit am Kulturerbe.

Oder wie der Meister seine Mannschaft beschreibt: „Die haben das Münster im Blut.“

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Archivfoto: Alexander Kaya Im Herzen von Ulm steht der höchste Kirchturm der Welt. Die Münsterbau­hütte pflegt ihn.
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Mit Druckluftm­eißeln bearbeiten die Handwerker das Material. Eine moderne Fräse könne nicht das Auge und das Feingespür eines Steinmetze­s ersetzen, sagen sie.
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Er ist der Leiter der Ulmer Münsterbau‰ hütte: Andreas Böhm.
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Fotos : Michael Kroha (3) Emil Kräß arbeitet seit 35 Jahren in der Bauhütte.

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