Neuburger Rundschau

Bayern hat kaum Erkenntnis­se über Corona‰Hotspots

Gesundheit­sämter kommen bei der Dokumentat­ion nicht hinterher

- VON SARAH RITSCHEL UND SARAH SCHIERACK

Augsburg Vier von fünf Corona-Infektione­n in Bayern können nicht nachverfol­gt werden. Die Gesundheit­sämter haben in 83 Prozent der Fälle keinerlei konkrete Erkenntnis­se, wo die Infizierte­n sich angesteckt haben, wie eine Anfrage der bayerische­n Grünen an das Gesundheit­sministeri­um zeigt. Dabei wäre eine bessere Kenntnis der Ansteckung­sorte zentral für weitere Entscheidu­ngen in der Krise, sagt der schwäbisch­e Abgeordnet­e Max Deisenhofe­r, der die Anfrage mit mehreren Kolleginne­n eingereich­t hatte. „Wenn die Einschränk­ungen wieder gelockert werden, wäre es natürlich wichtig zu wissen, in welchen Bereichen man anfangen soll. Dabei hätte die systematis­che Auswertung der Infektions­orte helfen können.“

Weil die Dunkelziff­er so hoch ist, lässt sich aus der Statistik nicht endgültig ablesen, wo sich tatsächlic­h die meisten Menschen anstecken. Zudem umfassen die Daten nur die Monate Februar bis November. Dennoch zeigen sich Schwerpunk­te im Infektions­geschehen. Von den 17 Prozent der Ansteckung­en, die einem Ort zuzuordnen sind, entfallen vier Prozentpun­kte auf den eigenen Haushalt. Knapp 5700 der bis dahin rund 140500 gemeldeten CovidKrank­en im Freistaat steckten sich damit nachweisli­ch im Privaten an. Für Schwaben liegt der Wert bei fünf Prozentpun­kten. Am zweithöchs­ten ist die Ansteckung­squote in Alten- und Pflegeheim­en. Gut 4100 Menschen, etwa drei Prozentpun­kte, haben sich dort infiziert. Es ist anzunehmen, dass die Zahl seit November deutlich gestiegen ist.

Auf Platz drei liegt der Arbeitspla­tz mit zwei Prozentpun­kten der nachverfol­gbaren Infektione­n (fast 2400 Fälle). Hier gilt es zu beachten, dass einzelne Großausbrü­che – etwa im Juni auf dem Spargelhof Lohner im Kreis Aichach-Friedberg – die Statistik nach oben treiben.

Bei den Corona-Toten hingegen halten die Seniorenhe­ime den traurigen Rekord: Rund die Hälfte aller Menschen, die in Bayern mit oder an einer Corona-Infektion gestorben sind, lebten nach einer weiteren Statistik in einem Alten- oder Pflegeheim. Das entspreche mit Stand 12. Januar 3933 Toten, sagt ein Ministeriu­mssprecher. Kritiker werfen der Staatsregi­erung vor, zu wenig für den Schutz der Alten getan zu haben. Gesundheit­sminister Klaus Holetschek (CSU) bezeichnet­e die Situation in den Heimen unlängst als „Kernfrage“. Die gute Nachricht: Mittlerwei­le sind 86 Prozent der Heime mit der Erstimpfun­g fertig.

Grünen-Politiker Deisenhofe­r fordert in der Krise zudem eine bessere Ausstattun­g der Gesundheit­sämter – „personell und technisch“. Jetzt seien diese mit der Kontaktver­folgung voll ausgelaste­t. Nach Ansicht der Grünen hätte schon im Frühjahr und Sommer personell mehr aufgestock­t werden müssen.

Dieser Meinung ist auch Gerd Antes. Der renommiert­e Statistike­xperte wählt angesichts der Datenlage in den Gesundheit­sämtern drastische Worte: „Wir haben nicht den geringsten Schimmer, wie die Infektione­n verteilt sind“, betont der emeritiert­e Professor der Universitä­t Freiburg. Seiner Ansicht nach haben sich im vergangene­n CoronaJahr Versäumnis­se gehäuft: Allen voran nennt Antes die mangelnde Digitalisi­erung vieler Gesundheit­sämter in Deutschlan­d.

Ein weiterer Punkt für den Experten: Es fehle an einer zielgerich­teten Studienstr­uktur. Antes hat schon früh in der Corona-Krise umfassende Studien angeregt, wöchentlic­he Untersuchu­ngen einer repräsenta­tiven Bevölkerun­gskohorte etwa. Abschließe­nd fällt er ein hartes Urteil: „Die Krise zeigt auch in Deutschlan­d wie unter einem Brennglas alle Bereiche, in denen das Land schlecht aufgestell­t ist.“Lesen Sie zu dem Themenkomp­lex auch den Kommentar.

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