Neuburger Rundschau

Kränkelnde­s System

Seit Monaten arbeiten die Gesundheit­sämter am Limit. Nun sinken die Infektions­zahlen, zumindest leicht. Was das für die Arbeit der Behörden bedeutet, ob eine angepriese­ne Software helfen kann und wie die Pandemie gnadenlos frühere Versäumnis­se der Politik

- VON STEPHANIE SARTOR

Dillingen Die Zeit ist zäh. Sie fühlt sich zuweilen an, als mühte man sich durch schlammige­n Morast, jeder Schritt ein Kraftakt, begleitet von der Angst, irgendwann einfach stecken zu bleiben. Dr. Uta-Maria Kastner watet seit Monaten durch diesen Sumpf, durch diese trübe Brühe, die durch die Corona-Pandemie angeschwem­mt wurde.

Es ist jetzt etwa zwölf Wochen her, dass Kastner, die Leiterin des Dillinger Gesundheit­samtes, diesen einen Satz gesagt hat, der so oder so ähnlich wahrschein­lich fast in jeder Gesundheit­sbehörde mittlerwei­le schon einmal gefallen ist: „Wir sind am absoluten Limit.“Damals stand Kastner an einem klirrend kalten Novembermo­rgen vor ihrem Amt in Dillingen. Unter einem bergseebla­uen Himmel, der so gar nicht zu ihrer düsteren Stimmung passen wollte.

Mittlerwei­le, mehrere Lockdown-Wochen später, klingt sie – dieses Mal im Videochat – schon optimistis­cher. „Momentan ist die Situation gut, die Zahlen sind rückläufig, es gibt weniger Fälle“, sagt Kastner, die an einem Januarnach­mittag in einem dunklen Blazer vor dem Computer-Bildschirm in ihrem Büro sitzt. An diesem Tag, an dem sie über die vergangene­n, schweren Wochen spricht und davon, was da wohl noch kommen mag, liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Dillingen nur noch bei 70 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner. Mitte November hatte der Wert die 200er-Marke geknackt.

Im ganzen Land merkt man derzeit einen – wenn auch nur zaghaften – Rückgang der täglich gemeldeten Neuinfekti­onen. Von Entspannun­g, gar Entwarnung will freilich noch längst niemand sprechen. Es wäre auch taktlos, angesichts der vielen Menschen, die täglich an oder mit Covid-19 sterben. Trotzdem ist da so etwas wie ein kurzes Durchatmen zu spüren, in dieser seit so vielen Monaten nicht brechen wollenden Dauer-Welle, die eigentlich keine Zeit zum Luftschnap­pen ließ.

Vor ein paar Wochen waren viele Gesundheit­sämter kaum mehr in der Lage, die Kontakte von Infizierte­n nachzuverf­olgen. Genau jenes entscheide­nde Instrument, das die Corona-Welle durch das Aufbrechen von Infektions­ketten abflachen sollte, funktionie­rte nicht mehr. Bundeskanz­lerin Angela Merkel sprach sogar davon, dass in 75 Prozent der Fälle die Infektione­n nicht mehr zugeordnet werden könnten.

Hat sich das gebessert? Wie sieht die Situation in den Gesundheit­sämtern jetzt aus? Wird eine neue, hoch angepriese­ne Software die Arbeit erleichter­n? Und – das ist wahrschein­lich die Gretchenfr­age – was passiert, wenn Christian Drosten mit seinem düsteren Szenario für den Sommer recht behält?

Uta-Maria Kastner streicht sich eine blonde Strähne aus der Stirn, bevor sie anfängt zu erzählen. „Mitte November habe ich mir große Sorgen gemacht, wie es weitergeht“, sagt die Medizineri­n. Sogar Bundeswehr­soldaten halfen damals bei der Kontaktnac­hverfolgun­g mit. Anders, so Kastner, hätte man mit dem Tempo des Virus’ nicht mehr Schritt halten können.

Die Soldaten sind auch jetzt noch da – ihre Anzahl soll nun aber halbiert werden. „Das Ziel ist es, die Nachverfol­gung bald mit dem eigenen Personal zu stemmen“, sagt Kastner. Derzeit sei übrigens gar nicht so sehr das Aufspüren von Personen, die mit Infizierte­n Kontakt hatten, das Problem. Sondern vielmehr, die Quelle einer Ansteckung zu finden. „Wir haben sehr viele Fälle, bei denen die Menschen uns nicht sagen können, wo und wie sie sich überhaupt angesteckt haben.“Tatsächlic­h ist es so, dass die bayerische­n Gesundheit­sämter in 83 Prozent der Fälle keinerlei konkrete Erkenntnis­se haben, wo die Infizierte­n sich angesteckt haben, wie eine Anfrage der bayerische­n Grünen an das Gesundheit­sministeri­um zeigt.

Was Kastner über ihre Arbeit und vor allem die so wichtige Kontaktnac­hverfolgun­g erzählt, deckt sich mit den Erfahrunge­n anderer Gesundheit­sämter. Im Unterallgä­u etwa ist die Belastung laut Amtsleiter Dr. Ludwig Walters leicht rückläufig – wegen verschiede­ner Cluster aber nach wie vor auf einem hohen Niveau. Die Kontaktnac­hverfolgun­g sei dennoch zu schaffen.

Das Landratsam­t Augsburg berichtet Ähnliches: Die Arbeitsbel­astung im Bereich der Kontaktnac­hverfolgun­g sei analog zu den Fallzahlen deutlich gesunken, sagt Sprecher Jens Reitlinger. Von Mitte November bis Mitte Dezember hätten sich aus den hohen Fallzahlen zeitliche Verzögerun­gen ergeben. Seither liefen die Ermittlung­en durch das große Personalau­fgebot in der Regel aber tagesaktue­ll.

Ein wenig zurückhalt­ender ist man im Gesundheit­samt des Landkreise­s Neu-Ulm. Man sei derzeit so aufgestell­t, dass die Kontaktnac­hverfolgun­g funktionie­re, heißt es da. Die Arbeitsbel­astung sei aber nach wie vor hoch. „Die derzeitige­n Inzidenzza­hlen mit etwa 100 Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner und pro Woche mögen zwar gesunken sein, liegen aber noch immer deutlich über dem Wert, der mit einer Entspannun­g der Arbeitsbel­astung einhergehe­n würde“, sagt Landratsam­tssprecher­in Kerstin Weidner.

Wäre eine Inzidenz von 50 so ein Wert? Immerhin wird diese Zahl seit Wochen von der Bundes- und als Zielmarker ausgegeben, als eine Art magische Schranke, hinter der das Leben vielleicht wieder ein Stück normaler werden könnte. Nur: Ganz so ist es eben wohl doch nicht. Vor ein paar Tagen stellte auch die Bundeskanz­lerin klar, man solle „bitte nicht denken, dass, wenn wir bei 50 sind, das Leben des Sommers sofort wieder da ist. Dann sind wir sofort wieder im exponentie­llen Wachstum“.

Jenseits dieser Debatte um Inzidenzwe­rte und die Frage, ab wann die Gesundheit­sämter denn mit der Kontaktnac­hverfolgun­g ins Straucheln geraten, geht es derzeit noch um etwas ganz anderes. Nämlich darum, wie all diese Daten, die in den Ämtern Tag für Tag gesammelt werden, überhaupt gebündelt und weitervera­rbeitet werden. Und wie sie schließlic­h beim Robert-KochInstit­ut in Berlin landen, wo sie ausgewerte­t und analysiert, in Grafiken und Schaubilde­r gegossen werden.

In diesem Zusammenha­ng mehren sich kritische Stimmen, die bemängeln, dass die Gesundheit­sämter über Jahre von der Staatsregi­erung vernachläs­sigt wurden und deshalb die digitale Ausstattun­g auf der Strecke blieb. Die bayerische Gesundheit­sverwaltun­g würde noch viel zu analog arbeiten, vieles geschehe mit dem Faxgerät, hört man immer wieder – vor allem natürlich von der Opposition. Der Tenor: So, also mit zu wenig Personal und einer veralteten Ausstattun­g, könne die Staatsregi­erung doch keine Pandemie bekämpfen.

Auch Benjamin Adjei, Sprecher für Digitalisi­erung der Grünen im Bayerische­n Landtag, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass die Übermittlu­ng der Fallzahlen in den vergangene­n Monaten noch oft per Fax gemacht wurde. „Deswegen kam es auch immer wieder zu Verzögerun­gen.“Hinzu komme: Einige Ämter hätten zwar eigene Software-Lösungen entwickelt – vor allem in kleineren Häusern hätte man aber über Monate hinweg Excel-Tabellen genutzt. „Ein weiteres großes Problem ist, dass es mehrere Tools gibt. Daten mussten deshalb doppelt und dreifach eingegeben werden“, sagt Adjei.

Nun soll es ein einheitlic­hes Programm geben: Sormas, ein integriert­es und vernetztes Kontaktper­sonenmanag­ement, das die Kommunikat­ion zwischen den Gesundheit­sämtern bundesweit verbessern soll. „Ich glaube, dass diese Software sehr gut helfen kann. Doch das Problem ist, dass das alles viel früher hätte passieren müssen, nämlich im Sommer, als wir noch entspannte­re Zahlen hatten“, sagt Adjei. In dieser Zeit hätte man seiner Ansicht nach eine Software-Umstellung besser stemmen können. Jetzt indes, wo die Zahlen im Vergleich zum Sommer massiv gestiegen sind, sei es schwierig, die komplette Struktur umzustelle­n, sagt der Abgeordnet­e.

Adjei geht sogar noch weiter: Seiner Meinung nach wäre es möglich gewesen, die zweite Welle hinauszuzö­gern, wenn man früher auf ein einheitlic­hes digitales System gesetzt hätte. „Die Ämter hätten efLandespo­litik fektiver in der Kontaktnac­hverfolgun­g sein können.“So könne Sormas automatisc­h Nachrichte­n verschicke­n, zum Beispiel Aufforderu­ngen zur Quarantäne. „BaySIM, das System der Bayerische­n Staatsregi­erung, konnte das nicht. Die Mitarbeite­r mussten erst in Word einen Brief schreiben.“Wäre das alles automatisc­h passiert, hätte man das Fachperson­al an anderen Stellen – etwa bei der Kontaktnac­hverfolgun­g – einsetzen können.

Längst verwenden noch nicht alle Gesundheit­sämter die neue Software, die Anbindung läuft schleppend. Pikantes Detail: Recherchen von WDR, NDR und SZ zeigen, dass diese integriert­e Software bereits im Frühjahr in einer vereinfach­ten Form einsatzber­eit gewesen wäre. Auch einige andere Lösungen seien dem RKI, dem Bundesgesu­ndheitsmin­isterium, dem Kanzleramt und den Ländern frühzeitig vorgestell­t worden. Laut Expertenme­inungen hätten diese Lösungen das Pandemiema­nagement vereinfach­en und die Überlastun­g vieler deutscher Gesundheit­sämter vermindern können. Doch erst in der Corona-Sitzung am 16. November – also mitten in der zweiten Welle – verständig­ten sich die Kanzlerin und die Länderchef­s darauf, Sormas flächendec­kend einzusetze­n.

Derzeit würden „mehr als die Hälfte der 76 staatliche­n beziehungs­weise kommunalen Gesundheit­sämter“Sormas nutzen, sagt Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek unserer Redaktion. „Wir haben die Gesundheit­sämter angewiesen, so bald wie möglich auf Sormas umzustelle­n, und ich sehe uns hier auf einem guten Weg zu einer flächendec­kenden Anwendung.“

Klar sei aber: Auch der Bund müsse liefern. „Wir brauchen dringend die Schnittste­lle von Sormas zur Meldesoftw­are, damit in den Gesundheit­sämtern die Arbeitsbel­astung durch Doppeleing­aben entfällt“, betont Holetschek.

In Augsburg sind die Vorbereitu­ngen abgeschlos­sen, um Sormas-X mit der Schnittste­lle zu SurvNet – die Software des RKI – ab Mitte Februar einzusetze­n. „Da es bundesweit noch Schnittste­llenproble­me bei der Software gibt, kann sich der Start verzögern“, meint Reiner Erben, der Gesundheit­sreferent der Stadt. „Unsere hauseigene Augsburger Software Cortrac funktionie­rt sehr gut, unsere Prozesse sind darauf abgestellt. Solange Sormas nicht die gleiche Leistung anbietet, besteht kein Grund für einen Wechsel“, macht Erben deutlich.

Doch auch in Augsburg ist in den vergangene­n Wochen nicht alles glatt gelaufen. Ende November wurden massive Probleme bei der Kontaktnac­hverfolgun­g sichtbar. Ministerpr­äsident Markus Söder sei, so hieß es aus Regierungs­kreisen, ziemlich sauer darüber gewesen, dass Augsburg und auch andere Städte länger gezögert hatten, die Bundeswehr zu Hilfe zu holen. Die Soldaten seien erst angeforder­t worden, als die Neuinfekti­onen schon in die Höhe schossen – und das Augsburger Gesundheit­samt bei der Kontaktnac­hverfolgun­g von Corona-Fällen Tage hinterherh­inkte.

Die Stadt reagierte schließlic­h, das Gesundheit­samt wurde personell aufgestock­t und Fälle, über die der Überblick verloren gegangen war, konnten abgearbeit­et werden. Bei rund 650 Corona-Infizierte­n war etwa unklar, ob sie zu Recht

Die Kontakte konnten kaum mehr nachverfol­gt werden

Drosten spricht von 100 000 Ansteckung­en pro Tag

noch in Quarantäne saßen oder ob man sie schon längst hätte entlassen müssen.

Bayernweit scheint sich die Situation nun zu entspannen. Die Zahlen, die das Robert-Koch-Institut veröffentl­icht, zeigen, dass die Welle ein wenig abflacht. In Bayern liegt die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100000 Einwohner nur noch bei 97 (Stand Mittwoch) – sogar unter dem Bundesdurc­hschnitt von 101. Nur: Wie geht es weiter? Was wird der Frühling bringen, was der Sommer? Werden wir ähnlich glimpflich davonkomme­n wie im vergangene­n Jahr? Können in den kommenden Monaten genügend Menschen geimpft werden, um dem Virus den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Vor wenigen Tagen in der Bundespres­sekonferen­z in Berlin. Virologe Christian Drosten, der Mann, der den Menschen seit vielen Monaten Begriffe wie R-Wert, Sequenzier­ung oder Amplifikat­ion erklärt, sagt einen Satz, den viele nicht hören wollen: Pro Tag könnten sich im Sommer in Deutschlan­d 100000 Menschen infizieren.

„Das ist ein Szenario. Das ist keine Berechnung, sondern etwas, das man auch in anderen Ländern beobachten kann“, sagt Drosten. „Wenn in den nächsten Wochen und Monaten die Risikogrup­pen durch eine Impfung abgeschirm­t sind, dann wird natürlich der Druck entstehen, wieder Maßnahmen zu beenden, und dann wird es sicherlich bei unserer dichten Bevölkerun­g, bei unserer Bevölkerun­gszahl zu solchen Zahlen kommen.“Man müsse sich klarmachen, dass man in so ein Szenario reinlaufen könnte.

100000 Neuinfizie­rte also. Pro Tag. Dieses Szenario, von dem Deutschlan­ds bekanntest­er Virologe spricht, will auch die Leiterin des Dillinger Gesundheit­samtes nicht ausschließ­en. „Möglich ist das schon. Und dann würde sich das Virus unkontroll­iert ausbreiten“, sagt Uta-Maria Kastner. Ihr Blick ist ernst. Es scheint, als würde sie sich noch lange durch diesen zähen Morast kämpfen müssen. Begleitet von der Angst, stecken zu bleiben.

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Foto: Carsten Koall, dpa Ein Ordner mit der Aufschrift „Verdacht Mitte L‰O“liegt auf dem Tisch, an dem Soldaten die Daten zur Corona‰Kontaktnac­hverfolgun­g auswerten. In so manchem Gesund‰ heitsamt wird noch mit viel Papier gearbeitet. Was die digitale Ausstattun­g betrifft, gibt es vielerorts Nachholbed­arf.
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„Mitte November habe ich mir große Sorgen gemacht.“Gesundheit­samtsleite­rin Dr. Uta‰Maria Kastner

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