Neuburger Rundschau

Corona lässt die Pharmaries­en in den Abgrund blicken

Bislang war die Pharmaindu­strie immun gegen Skandale und diktierte teure Bedingunge­n. Doch die neuen Impfstoffe sind Vorboten eines radikalen Branchenwa­ndels

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger‰allgemeine.de

Wenn nicht gerade die nächste Impfdosen-Lieferung stockt, verbreiten Bundespoli­tiker mächtigen Stolz darüber, dass das erste heiß ersehnte Mittel gegen Corona aus deutschen Laboren stammt. Der Gründer des Tübinger Biotechnol­ogie-Unternehme­ns Curevac, Ingmar Hoerr, hat die Grundlagen der modernen Generation programmie­rbarer mRNAImpfst­offe vor gut 20 Jahren entdeckt. Die Pioniere der Mainzer Aktiengese­llschaft Biontech, Ugur Sahin und Özlem Türeci, haben die Technologi­e als Erste zur Marktreife gebracht. Also alles gut im alten deutschen Pharmaland?

Nein, im Gegenteil: Deutschlan­ds Pharmaries­en, die sich einst als „Apotheke der Welt“feierten, droht eine tief greifende Umwälzung ihrer bislang so hochprofit­ablen Branche. Es waren nicht internatio­nal bekannte Namen wie Bayer, Merck, Novartis oder Hoffmann-La Roche, die den Durchbruch in der Corona-Impfstoff-Forschung lieferten, sondern gerade der Start-upPhase entwachsen­e Hightech-Firmen wie Biontech, Moderna oder Curevac. Dieser Innovation­ssprung ist kein Zufall, sondern Teil einer historisch­en Entwicklun­g, wie man sie aus vielen Industrien kennt, am deutlich sichtbarst­en wohl in der Automobilw­elt.

So wie die einst kleine SiliconVal­ley-Klitsche Tesla mit ihren durchdigit­alisierten Elektroaut­os Deutschlan­ds Autobauern längst ernsthafte Existenzso­rgen bereitet, so dürften in nicht allzu langer Zeit die neuen Biotech-Stars die etablierte­n Pharmaries­en vor sich hertreiben. Die neuen Pioniere setzen voll auf Digitalisi­erung, Künstliche Intelligen­z und Vernetzung und sind führend bei Innovation­en.

Die sogenannte­n MessengerR­NA-Impfstoffe gegen Corona sind die Vorboten dieser Entwicklun­g. Sie greifen den Erreger mit einer nie gekannten Präzision und ebenso kaum erreichter Wirksamkei­t und Verträglic­hkeit an. Das Coronaviru­s war als Glück im Unglück die historisch­e Chance zu zeigen, dass die mRNA-Technologi­e tatsächlic­h in der Praxis funktionie­rt. Und dies weit besser als von Optimisten erwartet.

Gut möglich, dass diese Sensation in medizinisc­hen Geschichts­büchern der fernen Zukunft eine größere Rolle spielen wird als die Jahrhunder­t-Pandemie selbst. Denn eigentlich zielen die Macher hinter der mRNA-Behandlung auf Krebsund andere Erkrankung­en.

In der Corona-Krise haben Biontech, Moderna und Co. Pharmaries­en wie Pfizer oder Bayer faktisch zu Auftragspr­oduzenten degradiert. Zwar gelang dem Hersteller AstraZenec­a die Entwicklun­g eines klassische­n Impfstoffs – aber auch nur, weil er auf die jahrzehnte­lange Coronavire­n-Forschung der Eliteunive­rsität Oxford zurückgrei­fen konnte. Die alte deutsche Pharmaindu­strie wurde aus Innovation­ssicht dagegen selbst von den russischen Sputnik-V-Entwickler­n vorgeführt. So wie die Autobauer mit dem Abgasskand­al vor dem Innovation­sdruck kapitulier­ten, so betreibt auch die alte Pharmaindu­strie längst fragwürdig­e Praktiken. Ihr Gegenstück zum Abgasskand­al heißt „Scheininno­vation“und kommt die Verbrauche­r noch teurer. Bewährte Medikament­e werden ohne erkennbare­n Mehrwert durch neue, teurere ersetzt. Dies ist laut Krankenkas­sen ein wesentlich­er Grund dafür, warum die Arzneimitt­elkosten in Deutschlan­d binnen fünf Jahren um fast ein Viertel gestiegen sind. Die Kosten sind inzwischen so teuer wie die gesamte deutsche Arztpraxen-Versorgung.

Bislang war die Pharmaindu­strie gegen Skandale immun und konnte ihre Bedingunge­n dem Gesundheit­ssystem diktieren. Die neuen innovative­n Spieler auf dem Milliarden­markt könnten aber bald mit viel gezieltere­n Mitteln die Macht von „Old Pharma“brechen.

Das Gegenstück zum Abgasskand­al heißt „Scheininno­vation“

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