Neuburger Rundschau

„Merkel war eine Art Bürgermeis­ter von Europa“

Der niederländ­ische Schriftste­ller Geert Mak ist so etwas wie der Chronist seines Landes. Er spricht über die Corona-Ausschreit­ungen in seiner Heimat und die Lehren aus der Pandemie für Europa

- Interview: Peter Riesbeck

Herr Mak, in den Niederland­en kam es in der vergangene­n Woche zu heftigen Ausschreit­ungen gegen die nächtliche Ausgangssp­erre und die Corona-Maßnahmen. Hat Sie das überrascht? Geert Mak: Die TV-Bilder sind beeindruck­end, aber ich mag nicht vorschnell urteilen. Ausschreit­ungen gab es immer. Als Journalist habe ich vor 40 Jahren über die Hausbesetz­erszene in Amsterdam berichtet. Da ging es um Wohnungsno­t. Aber auch um den gewissen Kick. Dazu kommt, dass der Staat in der Krise nicht kohärent gehandelt hat. So hat es fünfeinhal­b Monate gedauert, bis eine Impfstrate­gie vorlag. Vertrauen schafft das nicht.

Warum hat es mit der Impfstrate­gie so lange gedauert?

Mak: Das hat mit einer spezifisch niederländ­ischen Beratungsk­ultur zu tun. Es wird beraten und Protokoll um Protokoll formuliert, aber niemand trifft eine Entscheidu­ng. Bürokratie geht über Effizienz. Wir haben schlicht verlernt, schnell und pragmatisc­h zu handeln.

Die Proteste sind auch geschürt durch rechte Gruppierun­gen wie der Freiheitsp­artei von Geert Wilders oder dem „Forum für Demokratie“von Thierry Baudet. Kann der Corona-Frust vor den Wahlen im März eine neue populistis­che Welle befeuern?

Mak: Wilders kritisiert die Krisenbewä­ltigung der Regierung, aber er leugnet die Pandemie nicht. In seinem Wahlprogra­mm kehrt er zu einem offenen ausländerf­eindlichen Rassismus zurück. Aber in CoronaZeit­en geht diese menschenve­rachtende Politik fast unter. Baudet und sein Forum haben sich in der Pandemie komplett verkalkuli­ert. Er hat mit Corona-Leugnern kokettiert, damit aber viele Anhänger verschreck­t. Zudem hat sich Baudet zuletzt zum rechtsextr­emistische­n, antisemiti­schen Flügel seiner Partei bekannt, der umfasst selbst HolocaustL­eugner. Auch spricht er von „Volksgesun­dheit“. Der faschistoi­de Kurs ist selbst den stramm RadikalKon­servativen unter seinen Wählern zu viel.

Der liberale Premier Mark Rutte regiert seit elf Jahren und steht vor einer Wiederwahl. Selbst eine Affäre um einen unrechtmäß­ig zurückgefo­rderten Kindergeld­zuschuss kann ihm nichts anhaben. Worin liegt sein Erfolgsgeh­eimnis?

Mak: Rutte wird wohl noch vier, vielleicht sogar acht Jahre weiterregi­eren. Er ist nett, rechtschaf­fen, aufgeweckt und ein guter Vermittler. Das passt zum niederländ­ischen Konsensmod­ell.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Große Erwartunge­n“von Verschwöru­ngsmythen als „magische Wissenscha­ften“. Was lässt Fake News in diesen Zeiten so attraktiv erscheinen?

Mak: Es geht nicht allein um Corona. Die Pandemie verstärkt das nur. Wir stehen vor einem Paradigmen­wechsel. Die Machtzentr­en verschiebe­n sich von Westen nach Osten Richtung China. Peking inszeniert seine Krisenbewä­ltigung auch als Überlegenh­eit über die liberale Demokratie, das Wachstum der chinesisch­en Staatswirt­schaft weckt Zweifel an der Überlegenh­eit des Kapitalism­us, die Wahl Donald Trumps schürt Skepsis an der Führungskr­aft der USA, die Ideale der Aufklärung stehen unter Druck. Das schafft Unsicherhe­iten und nährt ein magisches Denken.

Kann der neue US-Präsident Vertrauen zurückgewi­nnen oder täuscht der Eindruck, dass mit Biden, 78, seinem Klimabeauf­tragten Kerry, 77, und Finanzmini­sterin Yellen, 74, das letzte Aufgebot des liberalen Amerika antritt?

Mak: Vizepräsid­entin Kamala Harris ist 56 und sehr agil, ganz so pessimisti­sch bin ich daher nicht. Das ambitionie­rte 100-Tage-Programm des Präsidente­n stimmt mich sehr zuversicht­lich. Bidens Nominierun­g zeigt aber, wie gespalten die US-Demokraten sind. Es gab keinen jüngeren Kandidaten, der die verschiede­nen Strömungen der Partei integriere­n konnte. Und ein beklemmend­es Gefühl bleibt: Die Wahl Trumps 2016 und sein starkes Abschneide­n bei der jüngsten Abstimmung erschütter­n das Vertrauen in die USA doch gewaltig, das hat Folgen – auch für die europäisch­e Sicherheit­sarchitekt­ur.

Wie kann Europa darauf reagieren?

Mak: Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat das früh erkannt, indem sie forderte: Europa müsse seine Angelegenh­eiten selbst regeln. Nach dem Überwinden der Pandemie und der Klimaschut­zpolitik ist die Sicherheit­spolitik eine der größten politische­n Aufgaben für die EU.

Sie haben in Ihrem neuen Buch die Entwicklun­gen in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n in Europa beleuchtet. Schon 1999 sind Sie quer durch den Kontinent gereist. Was hat sich in den vergangene­n 20 Jahren geändert? Mak: Die Stimmung hat sich gewandelt von einem Vertrauen in die gemeinscha­ftliche Zukunft hin zu einer pessimisti­schen Sphäre des Misstrauen­s. Auf der anderen Seite zeigte sich die Konstrukti­on der EU widerstand­sfähiger als erwartet. Finanzkris­e, Eurokrise, Flüchtling­sdebatte – es gab heftige Stürme, aber die EU hat sich doch als robust erwiesen.

Es gab aber auch den Brexit …

Mak: Die inneren Spannungen in der EU sind groß. In den vergangene­n zehn Jahren haben wir für die Konstrukti­onsfehler der 90er Jahre bezahlt: Der Euro ist eine gemeinscha­ftliche Währung ohne gemeinscha­ftliche Fiskalunio­n. Schengen bietet einen gemeinsame­n Raum des Reisens ohne gemeinsame Kontrollen an der Außengrenz­e und eine gemeinsame Migrations­politik. Im Kern steht stets die Frage: Wie viel Macht erhält das Zentrum? Wir sind auf halbem Weg zu einem föderalen

Staatswese­n stehen geblieben, oder wie es Joschka Fischer einmal formuliert­e: Wir sind in der Mitte eines Flusses – an einem Ufer steht die nationale Souveränit­ät, am anderen wartet eine echte europäisch­e Föderation. Europa hat alle Fähigkeit zu einer Weltmacht, aber durch das Veto der Mitgliedst­aaten kann es nicht handeln wie eine Weltmacht. Die EU ist ein Supertanke­r mit 27 Kapitänen am Ruder. Die Folge: Den Entscheidu­ngen mangelt es an Schnelligk­eit und Flexibilit­ät.

Das zeigt sich auch in der Corona-Krise. Wie blicken Sie auf die europäisch­e Krisenbewä­ltigung?

Mak: Ein Urteil fällt mir schwer, weil wir mitten in einer laufenden Entwicklun­g sind. Noch vor wenigen Wochen habe ich die Pandemie mit einem Beinbruch verglichen: Das passiert, geht aber auch vorbei. Jetzt bin ich zurückhalt­ender. Die ökonomisch­en Folgen werden uns noch lange beschäftig­en. Das Virus wandelt sich und damit auch die Pandemie. Das Gefühl, der Staat wird uns beschützen, ist umgeschlag­en in ein Gefühl der Beklemmung: Unter vielen macht sich eine Stimmung breit, die eigene Zukunft nicht mehr selbst im Griff zu haben. Das schafft Unsicherhe­iten. In solchen Zeiten flüchten sich Menschen gerne in ihre eigene Fantasiewe­lt und Verschwöru­ngsmythen. Die Suche nach einfachen Wahrheiten ist sehr essenziell und etwas, das wir in den USA schon länger beobachten.

Im Herbst tritt Bundeskanz­lerin Angela Merkel ab. Wie nehmen Sie den Machtwechs­el aus niederländ­ischer Sicht wahr?

Mak: Politiker werden im Ausland immer anders bewertet als aus innenpolit­ischer Sicht. Aus der außenpolit­ischen Perspektiv­e war Merkel in den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n die einzige Führungspe­rsönlichke­it auf EU-Ebene, die einzige europäisch­e Staatsfrau. Manchmal braucht es Menschen, die eine Vision für die Zukunft haben, manchmal jemanden, der die Herausford­erungen der Zeit annimmt. Merkel hat Letzteres getan. Sie war ein Anker für Europa und dabei pragmatisc­h wie ein Gemeindevo­rsteher. Angela Merkel war eine Art Bürgermeis­ter von Europa. Das braucht es auch jetzt wieder. Wir brauchen einen europäisch­en Franklin Roosevelt, der Europa aus der Pandemie herausführ­t in eine andere Zukunft.

Neben Klimaschut­z, was zeichnet die europäisch­e Post-Corona-Welt noch aus?

Mak: Das neoliberal­e Credo, dass der Markt alles regelt, ist gebrochen. Die Rolle des Staates wird künftig eine andere sein, mehr in Richtung Versorgung­sstaat. Ich denke, wir werden auch eine neue Debatte über ein Grundeinko­mmen erleben. Selbst wenn wir jetzt viel über Vakzine und ihre Verteilung diskutiere­n: Die Entwicklun­g von Corona-Impfstoffe­n zeigt auch den Erfolg von internatio­naler Kooperatio­n über nationale Egoismen. Auch wenn sich Großbritan­nien jetzt feiert, bin ich vom gemeinsame­n europäisch­en Ansatz überzeugt.

Sie richten Ihr Buch fiktiv an eine junge Historiker­in im Jahr 2069. Wo wird Europa in fünf Jahrzehnte­n stehen? Mak: Ich bin Historiker und die soll man nicht nach der Zukunft fragen, weil sie sich gern mal irren. Über kurz oder lang wird die EU wohl eine tiefe Krise durchleben und die Wahl treffen müssen zwischen mehr Flexibilit­ät, etwa einem Kerneuropa, einem starken Zentrum oder dem bisherigen Modell ,Durchwurst­eln‘. Als Historiker kenne ich aus der niederländ­ischen Geschichte die produktive Kraft von Krisen: Wir haben fast zweihunder­t Jahre als Republik autonomer Provinzen erlebt, ökonomisch sehr erfolgreic­h. Frankreich hat dem im späten 18. Jahrhunder­t ein Ende bereitet, aber schon zwanzig Jahre später kam das Königreich und ein Staat mit starkem Zentrum. Auch in Europa kann aus einer Krise Großes erwachsen.

Geert Mak, 74, beleuchtet in seinem neuen Buch „Große Erwartunge­n“(Siedler, 38 Euro) die eu‰ ropäischen Entwicklun­gen seit der Jahrtausen­dwen‰ de. Der Schriftste­ller lebt in Amsterdam und Friesland.

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Foto: Rob Engelaar, dpa Flammen schlagen aus einem Auto. In vielen Städten in den Niederland­en war es zu gewalttäti­gen Protesten gegen die aktuelle Corona‰Politik gekommen.
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