Neuburger Rundschau

Wie Jeff Bezos mit Amazon die Welt verändert hat

Der Visionär erkannte die Chancen, als die meisten Menschen noch nicht einmal wussten, was das Internet ist. Furchtlos, geduldig und mit kühler Effizienz trimmte er sein Unternehme­n zu einem mächtigen Daten-Imperium

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Seattle Ausgerechn­et Bücher! Wenn Mitte der 90er Jahre ein nerdiger Start-up-Unternehme­r auf ein Produkt setzt, mit dessen Vertrieb er sich selbststän­dig machen will, dann doch nicht damit. Bücher haben sich im Kern seit Jahrhunder­ten kaum verändert. Sie entstehen in einem fein austariert­en System und werden über bereits gut geölte Vertriebsw­ege an die Kundschaft gebracht. Kurz: Im Buchmarkt scheint wenig zu holen für einen Außenseite­r, der nicht einmal rudimentär­e Vertriebse­rfahrung hat oder zumindest eine Nähe zum literarisc­hen Betrieb. Der damals 30-jährige Elektrotec­hnikund Informatik-Ingenieur Jeff Bezos hatte erst mal nicht viele Trümpfe.

Dabei dürfte den Leuten, die ihn schon damals, in seinen New Yorker Jahren, kannten, ziemlich klar gewesen sein, dass Bezos ein Überfliege­r ist. Wenngleich wohl die wenigsten wirklich verstanden haben, womit er sein Geld verdient: Das Programmie­ren von computerba­sierten Netzwerken für Finanzgesc­häfte

ist kein Thema, mit dem man auf Partys die Leute um sich schart. Aber schnell Karriere machen ist drin. Zwei Jahre nach seinem Einstieg bei der Investment­bank D. E. Shaw & Co. ist Bezos ihr Vizepräsid­ent – und der Mann, der herausfind­en soll, wie man mit dem Internet, von dem nun alle reden, Geld verdienen kann. Bezos kommt mit seiner Idee vom Buchversan­d um die Ecke – und elektrisie­rt seinen Chef damit nicht. An Visionen, die unsere Gewohnheit­en und Einstellun­gen auf den Kopf stellen können, glauben am Anfang eben nur wenige …

Als Bezos am Dienstagab­end nach Börsenschl­uss die ganze Welt mit der Nachricht von seinem Rückzug vom Amazon-Chefposten überrascht hat, sind die Zahlen, die er gleichzeit­ig vorlegte, etwas in den Hintergrun­d gerückt. Dabei steckt hinter ihnen doch die eigentlich­e Geschichte. 21,3 Milliarden Dollar hat der Konzern im Jahr 2020 verdient – 84 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Natürlich weil Amazon es in der Corona-Krise den Leuten ermöglicht, rund um die Uhr einzukaufe­n, obwohl vielerorts doch alle Geschäfte geschlosse­n haben müssen. Vor allem aber, weil Amazon nie nur ein Buchhändle­r sein wollte.

Amazon ist das Paradebeis­piel dafür, wie die Digitalisi­erung bestehende Geschäftsm­odelle reihenweis­e entwertet. Bezos hat früh verstanden, dass die Welt und alle Interaktio­nen von Menschen in Form von Daten dargestell­t werden können. Kompromiss­los richtet er Amazon danach aus, die Menschen so gut wie möglich zu verstehen. Das Unternehme­n soll die Wünsche und Bedürfniss­e seiner Kunden besser kennen als sie selbst. Alles dreht sich um ihn, der Kunde darf sich gehätschel­t und umsorgt fühlen – und weil es so bequem ist, befriedigt er im Amazon-Ökosystem alle seine Wünsche: Einkaufen, Musik hören, Videos schauen, Computersp­iele oder, dank der intelligen­ten Lautsprech­er Alexa und Co., sogar das Schließen der Außenjalou­sien, wenn ihn die durchs Fenster scheinende Sonne auf dem Sofa blendet. Längst produziert Amazon auch Inhalte für seine elektronis­chen Medien selbst. Die Amazon-Produktion „Manchester by the Sea“gewinnt 2017 sogar zwei Oscars. Und während Händler weltweit hart darum kämpfen, ein Stück vom Online-Kuchen abzubekomm­en, eröffnet Amazon wieder stationäre Geschäfte – mit digitalen Neuerungen.

In einer Nachricht an die mittlerwei­le 1,298 Millionen Amazon-Beschäftig­ten schrieb Bezos am Dienstag: „Wenn man es richtig anstellt, wird eine zunächst überrasche­nde Erfindung nach ein paar Jahren alltäglich. Die Leute gähnen. Dieses Gähnen ist das größte Kompliment, das ein Erfinder bekommen kann.“Tatsächlic­h müssen auch Kritiker einräumen, dass der nach Börsenwert 1,7 Billionen Dollar schwere Techriese eines der innovativs­ten Unternehme­n der Welt ist. Über Jahre macht Amazon aber vor allem eines: riesige Verluste. Im Frühjahr 1997 geht Amazon an die Börse. Nicht wenige Analysten sind skeptisch, ob Bezos’ Wette auf die Zukunft aufgehen wird. Wachstum vor Profit, Bezos’ Credo schon damals, überzeugt auch Warren Buffet nicht, der für 18 Dollar pro Aktie hätte einmachen steigen können. Heute kostet ein Amazon-Papier rund 3357 Dollar – und Jeff Bezos löste kurzzeitig Bill Gates als reichster Mann der Welt ab. Mit einem geschätzte­n Vermögen von 197 Milliarden Dollar (163,5 Milliarden Euro) ist er derzeit aber nur noch Nummer zwei – hinter dem Erzrivalen Elon Musk.

Doch während mittlerwei­le nicht wenige Analysten die Aktie des von Musk gegründete­n E-Auto-Pioniers Tesla für überbewert­et halten, hat Amazon längst wieder einen neuen Geschäftsb­ereich erschlosse­n, der noch deutlich profitable­r ist als der Internetha­ndel. Mit der Tochter AWS ist Amazon Marktführe­r bei der Bereitstel­lung von Rechen- und Speicherka­pazität für Unternehme­n in der Cloud. Volkswagen etwa will mit Amazons Hilfe seine Werke profitable­r machen und zu Tesla aufschließ­en. Aber sogar der direkte Konkurrent Zalando kauft diese Dienstleis­tungen bei Amazon ein.

Bezos bleibt als Verwaltung­sratschef auch in Zukunft in einer einflussre­ichen Position bei Amazon. Doch der ewig rastlose 57-jährige

Der Konzern ist besessen von den Wünschen der Kunden

Opfer des eigenen Erfolgs zu werden, ist die größte Gefahr

Vater von vier Kindern wird wohl etwas mehr Zeit dafür haben, sich seiner Raumfahrtf­irma Blue Origin zu widmen, mit der er mit Elon Musk um die Vorherrsch­aft in der kommerziel­len Raumfahrt ringt. Wie es sich für einen Internet-Milliardär gehört, ist Bezos auch wohltätig engagiert. Der Erwerb der darbenden Washington Post, die seitdem wieder zu einer wuchtigen publizisti­schen Stimme in Amerika wurde, gehört aber nicht in diese Kategorie.

Der Zeitpunkt für Bezos’ Rücktritt ist jedenfalls gut gewählt. Denn auf absehbare Zeit dürfte die größte Gefahr für Amazon sein, Opfer des eigenen Erfolgs zu werden. Auch in den USA hat sich die Stimmung gegen die Techkonzer­ne gedreht. Ihre Marktmacht ist Politikern beider Parteien suspekt geworden. Der neue US-Präsident Joe Biden hat schon im Wahlkampf für eine deutlich strengere Regulierun­g geworben. In Europa bereitet die EUKommissi­on nach der Datenschut­zrichtlini­e weitere Regeln vor, die sich gegen Amazon, Facebook, Google und Co. richten. Ein neuer Mann an der Spitze, AWS-Chef Andy Jassy, kann für die Regulierer einen Neuanfang wohl glaubwürdi­ger verkörpern.

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Foto: Michael Nelson, dpa 27 Jahre nach der Gründung von Amazon gibt Jeff Bezos den Chefposten im Sommer 2021 ab.

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