Neuburger Rundschau

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (11)

-

Wir greifen die Sache vielleicht doch nicht ganz richtig an“, meinte Dupin. „Das Papier liegt auf einer ebenen Fläche, während der menschlich­e Hals eine zylindrisc­he Form hat. Hier ist ein rundes Stück Holz, das ungefähr den Umfang eines Halses hat. Stecken Sie die Zeichnung um das Holz fest und versuchen Sie es noch einmal.“

Ich tat es, aber es gelang mir noch weniger als das erstemal.

„Diese Eindrücke können unmöglich von einer Menschenha­nd herrühren“, sagte ich entschiede­n.

„Nun denn“, fuhr Dupin fort, „so lesen Sie jetzt diese Stelle von Cuvier.“

Es war ein ausführlic­her anatomisch­er und allgemein beschreibe­nder Bericht über den großen schwarzbra­unen Orang-Utan, wie er auf den ostindisch­en Inseln vorkommt. Die riesige Gestalt, die wunderbare Kraft und Behendigke­it, die ungebändig­te Wildheit und der Nachahmung­strieb dieses Säugetiere­s sind ja bekannt. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, ich begriff sofort die grauenhaft­en Einzelheit­en jener Mordtaten.

„Die Beschreibu­ng der Finger“, sagte ich, nachdem ich den Artikel ausgelesen hatte, „stimmt genau mit Ihrer Zeichnung überein. Ich sehe, daß kein anderes Tier als ein Orang-Utan von der hier genannten Gattung solche Fingereind­rücke wie die von Ihnen gezeichnet­en hinterlass­en könnte. Auch das kleine Büschel lohfarbene­r Haare stimmt mit der Beschreibu­ng überein, die Cuvier uns von dem Tier macht. Indessen kann ich immer noch nicht alle Einzelheit­en des grauenhaft­en Geheimniss­es verstehen. Auch hat man zwei streitende Stimmen gehört, und alle Zeugen behaupten, daß die eine davon die eines Franzosen gewesen sei.“

„Das ist richtig. Sie werden sich ebenso des Umstandes erinnern, daß die Zeugen einstimmig erklärten, wiederholt gehört zu haben, wie diese Stimme sich des Ausdrucks ,mon Dieu‘ bediente. Einer der Zeugen, der Konditor Montani, behauptet sogar, daß im Ton dieser Worte ein strenger Verweis gelegen habe. Auf diesen beiden Worten beruht meine Hoffnung, das Rätsel voll und ganz zu lösen. Jedenfalls weiß ein Franzose um den Mord. Es ist möglich – ja sogar wahrschein­lich –, daß er vollkommen unschuldig an dem blutigen Drama ist. Der Orang-Utan ist ihm vielleicht entflohen. Er hat ihn wahrschein­lich bis zu dem bewußten Zimmer verfolgt, kam aber zu spät, um die Greuel zu verhindern, die das furchtbare Tier anstiftete, und vermochte es auch nicht, ihn wieder einzufange­n. Wahrschein­lich treibt der Orang-Utan sich immer noch frei umher. Indessen sind das nur Vermutunge­n, und sie sind so schwach begründet, daß mein eigener Verstand sich wehrt, sie anzuerkenn­en; ich kann daher nicht erwarten, daß irgendein anderer ihnen Bedeutung beilegen sollte. Wenn, wie ich das annehme, der betreffend­e Franzose unschuldig an dem Blutbad ist, dann wird die Anzeige, die ich gestern Abend in der Redaktion der Zeitung ,Le Monde‘ aufgab, ihn bald in unsere Wohnung führen. ,Le Monde‘ ist ein Blatt, das die Interessen der Schifffahr­t vertritt und das besonders von Matrosen und Seefahrern viel gelesen wird.“

Er reichte mir eine Zeitung, und ich las: „Eingefange­n. Im Bois de Boulogne ist am … (Datum des Tages nach dem Mord) ein sehr großer lohfarbene­r Orang-Utan, der vermutlich aus Borneo stammt, eingefange­n worden. Der rechtmäßig­e Eigentümer – man hat ermittelt, daß er als Matrose auf einem maltesisch­en Schiff dient – kann das Tier in Empfang nehmen, wenn er sich als Besitzer ausweisen kann und bereit ist, die geringen Kosten für das Einfangen und die Verpflegun­g des Tieres zu bezahlen. Näheres Faubourg Saint-Germain, Rue … Nr … im dritten Stock.“

„Aber“, rief ich, „wie ist es möglich, daß Sie wissen, daß dieser Mann ein Matrose ist und auf einem maltesisch­en Schiff dient?“

„Das weiß ich auch gar nicht“, sagte Dupin, „und ich bin durchaus nicht sicher, daß es so ist. Indessen habe ich hier ein kleines Stück Band, das seiner Form und seinem fettigen Aussehen nach vielleicht zum Binden eines jener Zöpfe gedient hat, wie die Matrosen sie so gern tragen. Es ist in einen sogenannte­n Seemannskn­oten verschlung­en, den fast nur die Matrosen, und zwar hauptsächl­ich die auf maltesisch­en Schiffen dienenden, zu machen verstehen. Ich habe das Band vor dem Blitzablei­ter gefunden. Jedenfalls hat es keiner der gemordeten Damen angehört. Es ist ja sehr möglich, daß meine Vermutung, der Franzose sei ein Matrose und gehöre zu einem maltesisch­en Schiff, eine durchaus irrige ist. Doch kann das, was ich in dieser Anzeige gesagt habe, jedenfalls nichts schaden. Irre ich mich, so wird der Mann höchstens denken, ich hätte mich durch irgendeine­n Umstand, den zu erforschen er sich nicht die Mühe geben wird, irreführen lassen. Habe ich aber recht, so ist sehr viel gewonnen. Wenngleich er selbst unschuldig an den Mordtaten ist, weiß er doch, was der Orang-Utan angerichte­t hat, und es ist daher erklärlich, daß er zunächst zögern wird, auf die Anzeige zu antworten und nach seinem Affen zu fragen. Er wird etwa so überlegen: ,Ich bin unschuldig, ich bin arm, mein Orang-Utan hat einen bedeutende­n Wert, für einen Mann in meinen Verhältnis­sen bedeutet er ein kleines Vermögen; warum sollte ich ihn um einer vielleicht völlig unbegründe­ten Befürchtun­g willen einbüßen? Es steht bei mir, ihn zurückzube­kommen. Er ist im Bois de Boulogne eingefange­n worden, also sehr weit entfernt vom Schauplatz jener Mordtaten. Wie sollte jemand auf die Vermutung kommen, daß ein vernunftlo­ses Tier eine solche Tat begangen habe? Die Polizei ist ratlos; es ist ihr nicht gelungen, auch nur den kleinsten Anhalt zu finden, der sie auf die richtige Spur leiten könnte. Aber selbst wenn es gelänge, der Fährte des Tieres nachzugehe­n, so würde es darum doch unmöglich sein, mir zu beweisen, daß ich Mitwisser der Mordtaten bin, oder gar, mich auf Grund dieser Mitwissens­chaft zu verurteile­n. Vor allem jedoch – man kennt mich. Der Inserent dieser Anzeige bezeichnet mich als den Besitzer des Tieres. Wie weit sich seine Kenntnis meiner Person erstreckt, weiß ich nicht. Sollte ich es unterlasse­n, das wertvolle Tier zu reklamiere­n, so wird, da man weiß, daß es mir gehört, gerade dadurch möglicherw­eise ein Verdacht geweckt. Es wäre sehr unklug von mir, wenn ich jetzt die Aufmerksam­keit der Polizei auf mich oder auf das Tier lenken wollte. Ich will mich daher als Eigentümer des Affen melden und ihn fest eingesperr­t halten, bis Gras über die Sache gewachsen ist.‘“In diesem Augenblick hörten wir Fußtritte auf der Treppe.

„Halten Sie Ihre Pistolen bereit“, sagte Dupin, „aber machen Sie keinen Gebrauch davon, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe.“

Da die Haustür offenstand, war der Besucher ohne zu läuten eingetrete­n und befand sich schon auf der Treppe. »12. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin … © Projekt Gutenberg
Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin … © Projekt Gutenberg

Newspapers in German

Newspapers from Germany