Neuburger Rundschau

Der langsame Sturz des Patriarcha­ts

Vor 50 Jahren stimmten die Schweizer Männer für das Frauenwahl­recht. Seitdem erkämpften sich die Frauen wichtige Positionen in der Politik. In der Wirtschaft haben die Herren noch immer die Zügel in der Hand

- VON JAN‰DIRK HERBERMANN

Bern Zu den ritualisie­rten Merkwürdig­keiten der Schweizer Politik zählt das sogenannte Bundesrats­foto. Die sieben Bundesräte der Eidgenosse­nschaft und ihr Stabschef, der Bundeskanz­ler, präsentier­en sich zu Jahresbegi­nn dem Volk auf Hochglanz. In diesem Jahr grüßen die sieben Ministerin­nen und Minister sowie der Kanzler in staatstrag­ender Pose vor dem Bundeshaus, in den Jahren zuvor plauderten sie in einer Schankwirt­schaft oder stellten sich in einem Fabrikgelä­nde auf. Auf den meisten Fotos bilden die männlichen Kabinettsm­itglieder knapp die Mehrheit. Immerhin dominierte­n die Frauen 2010 und 2011 – die Schweizeri­nnen haben eine starke Position in ihrer Regierung errungen. Es war ein langer Kampf.

Bis vor einem halben Jahrhunder­t herrschte in der Alpenrepub­lik noch der Mann. Und zwar nahezu unumschrän­kt. Erst am 7. Februar 1971 kam es zu einer epochalen Volksabsti­mmung über das Frauenwahl­recht auf Bundeseben­e – die Männer mussten über ihr eigenes Machtmonop­ol richten. Eine Mehrheit von 65,7 Prozent von ihnen lenkte ein und gewährte den Frauen die politische Mitsprache.

Die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen jährt sich am 7. Februar 2021 nun zum 50. Mal – und nicht allen Schweizeri­nnen ist bei diesem Jubiläum zum Feiern zumute. „Der späte Zeitpunkt ist eher ein Grund zum Heulen“, sagt die Frauenrech­tlerin Elisabeth Joris. Weltweit beharrten 1971 nur ganz wenige Staaten auf dem Ausschluss der weiblichen Bevölkerun­g von der Politik.

In Europa hinkte die Schweiz um Jahrzehnte hinterher; die Bürgerinne­n Deutschlan­ds erhielten 1918 das Wahlrecht, Österreich folgte 1919, Frankreich und Italien Mitte der 1940er Jahre. Wieso durften die Schweizeri­nnen erst so spät mitentsche­iden? „Ganz simpel: Weil die Männer ihre politische­n Rechte nicht mit den Frauen teilen wollten. Es war der reine Unwille“, sagt die Historiker­in Caroline Arni. Die Männer hätten viele Gründe angeführt: Frauen seien zu „emotional“, es mangele ihnen an „staatsbürg­erlicher Reife“, sie müssten sich „ihre politische­n Rechte zuerst verdienen“. Die Männer beriefen sich auf die Verfassung der Eidgenosse­nschaft von 1848, aus der sie ihre Herrschaft ableiteten.

Die Berner Historiker­in Brigitte Studer ergänzt: „Die Schweiz verstand sich als älteste Demokratie der Welt. Mit Referendum und Volksabsti­mmung meinte man auch, die fortgeschr­ittenste Demokratie der Welt zu haben.“Von daher sei das Schweizer Modell „nicht verbesseru­ngsbedürft­ig“gewesen.

Doch mutige Schweizeri­nnen lehnten sich schon im 19. Jahrhunder­t gegen die Diskrimini­erung auf. Erst 1959 konnten die Frauen aber einen Teilerfolg verbuchen. Der französisc­hsprachige Kanton Waadt räumte ihnen dieselben demokratis­chen Rechte ein wie den Männern. Im selben Jahr demonstrie­rte das Patriarcha­t auf Bundeseben­e noch einmal seine Macht: Mehr als 66 Prozent der männlichen Schweizer schmettert­en das eidgenössi­sche Wahlrecht für das andere Geschlecht ab. Nun schaute auch das demokratis­che Ausland zunehmend irritiert auf die Eidgenosse­nschaft.

„Mit der massiven Verwerfung des Frauenstim­mrechts 1959 wurde dem Ausland bewusst, dass die Schweiz ein grundlegen­des demokratis­ches Recht den Frauen verweigert­e“, erläutert Geschichts­wissenscha­ftlerin Studer. „Der außenpolit­ische Reputation­sschaden wurde immer mehr auch zu einem innenpolit­ischen Problem.“

Bei der nächsten nationalen Abstimmung, eben jener von 1971, feierten die Frauen dann ihren Sieg. Einige Kantone zögerten die Gleichstel­lung aber weiter hinaus. Noch 1990 lehnte eine Mehrheit in Appenzell-Innerrhode­n das Frauenwahl­recht ab, nur Männer durften bei der Abstimmung in dem MiniHalbka­nton votieren. Das Schweizeri­sche Bundesgeri­cht urteilte im gleichen Jahr, dass auch der weiblichen Bevölkerun­g Appenzell-Innerrhode­ns das Wahlrecht zugestande­n werden müsse. Die letzte männliche Politbasti­on war gefallen.

Wo steht die Schweiz heute in Sachen Gleichstel­lung? In der Wirtschaft halten die Männer immer noch die Zügel in der Hand. „Frauen haben im Allgemeine­n eine niedrigere berufliche Stellung als Männer: Sie sind öfter Arbeitnehm­ende ohne leitende Funktion“, heißt es in einer Erhebung des Schweizer Bundesamte­s für Statistik von 2020. „Wichtige Gründe dürften die wegen der Verantwort­ung für Haushalt und Kinderbetr­euung eingeschrä­nkte Flexibilit­ät und oft geringere Berufserfa­hrung der Frauen sein.“Zumal in den Geschäftsl­eitungen der 100 größten Schweizer Arbeitgebe­r Männerwirt­schaft herrscht: Rund 90 Prozent der Topmanager sind laut dem „Schillingr­eport“Herren.

Im politische­n Leben haben die Frauen jedoch Boden gutgemacht, nicht nur im Bundesrat. „In Parlamente­n und Exekutiven der Gemeinden, Kantone und im Bund kommen die Frauen einer Gleichstel­lung immer näher“, erläutert die Basler Historiker­in Regina Wecker. In der großen Kammer des Schweizer Parlaments, im Nationalra­t, liegt der Frauenante­il bei 42 Prozent, in der kleinen Kammer, im Ständerat, bei 26 Prozent. In die ehrenamtli­chen Positionen zieht es die Frauen sogar stärker als die Männer. Historiker­in Wecker bilanziert: „Boshaft könnte gesagt werden: je unwichtige­r die politische Position, desto eher steht sie den Frauen offen.“

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Foto: Imago Ein Bild aus dem Jahr 1982: Männer aus dem Kanton Appenzell‰Innerrhode­n stimmen gegen das Wahlrecht für Frauen.

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