Neuburger Rundschau

„Es kommen viel zu wenige Arbeitskrä­fte zu uns“

Detlef Scheele ist Chef der Bundesagen­tur für Arbeit. Er beklagt, dass sich der Fachkräfte­mangel in Deutschlan­d wegen der zu geringen Zuwanderun­g in Corona-Zeiten deutlich verschärfe­n könnte

- Interview: Stefan Stahl

Herr Scheele, können Sie Menschen, die durch Corona ihren Job verloren haben, Mut machen, dass sie nach Corona wieder einen Arbeitspla­tz finden? Detlef Scheele: Ja, ich kann ihnen Mut machen, dass sie wieder einen Arbeitspla­tz finden, wenn sie qualifizie­rt sind. Im Moment liegt die Zahl der Arbeitslos­en um 475000 höher als vor einem Jahr. Diese Zahl geht auf Corona zurück. Nach Corona werden wir jedenfalls keine Rückkehr zu schlimmen Zeiten mit vier Millionen Arbeitslos­en erleben.

Zuletzt gab es noch 2,26 Millionen Kurzarbeit­er. Wie viele Jobs wurden durch Kurzarbeit­ergeld gerettet? Scheele: Mit dem Kurzarbeit­ergeld haben wir im November rechnerisc­h immer noch eine Million Arbeitsplä­tze gesichert. Man darf sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn all diese Kurzarbeit­er arbeitslos wären.

Wie viele Arbeitslos­e hätten wir dann? Scheele: Da hätten wir schon 2020 im April rechnerisc­h über fünf Millionen Arbeitslos­e gehabt. Denn: In der Spitze haben wir mit der Kurzarbeit drei Millionen Arbeitsplä­tze gesichert. Die Kurzarbeit ist ein Segen für Deutschlan­d. Und es ist ein Segen für Deutschlan­d, dass die Bundesagen­tur für Arbeit Rücklagen aus Versichert­engeldern von knapp 26 Milliarden Euro hatte.

Doch diese stattliche Summe dürfte ja aufgebrauc­ht sein.

Scheele: Deswegen ist es gut und richtig, dass Bundestag und Bundesregi­erung beschlosse­n haben, dass die Bundesagen­tur zur Weiterfina­nzierung der Kurzarbeit einen Zuschuss aus dem staatliche­n Haushalt bekommt. Das werden nach der jetzigen Planung insgesamt knapp zehn Milliarden Euro sein.

Steigt nun der Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung?

Scheele: Gegenwärti­g wäre eine Beitragssa­tzsteigeru­ng kontraprod­uktiv. Aber die Krise hat sehr deutlich vor Augen geführt, welchen hohen stabilisie­renden Wert eine ordentlich­e Reserve hatte. Der Beitrag ist gesetzlich auf 2,6 Prozent festgelegt. Er ist seit letztem Jahr und befristet bis Ende 2022 auf 2,4 Prozent abgesenkt. Dann geht er zurück auf 2,6 Prozent. Wie es weitergeht, werden wir sehen.

Kommen wir am Arbeitsmar­kt 2021 mit einem blauen Auge davon? Scheele: Wir gehen im Moment davon aus, dass wir auch beim zweiten Lockdown, was die Zahl der Entlassung­en betrifft, mit einem blauen Auge davonkomme­n. Wenn 2022 ein normales Jahr wird, hoffen wir, dass wir spätestens 2023 eine neue Rücklage erwirtscha­ften können.

Man kann nicht ewig auf Kurzarbeit setzen, also kaum über 2021 hinaus.

Scheele: Nein, das kann man nicht. Kurzarbeit ist kein Geschäftsm­odell. Wichtig ist, dass wir in Deutschlan­d sobald wie möglich die Qualifizie­rung der Mitarbeite­r hochfahren. Denn wenn wir die Pandemie überstande­n haben, wird sich der Mangel an Fachkräfte­n verstärkt zurückmeld­en. Wir dürfen also Beschäftig­te nicht verlieren, weil sie, was etwa Digitalisi­erung und Elektrifiz­ierung betrifft, noch nicht ausreichen­d qualifizie­rt sind. Denn sowohl im vergangene­n als auch in diesem Jahr geht die Zahl an zur Verfügung stehenden Arbeitskrä­ften zurück. Corona verschärft die demografis­che Entwicklun­g: Unserer alternden Gesellscha­ft stehen noch weniger Fachkräfte zur Verfügung.

Was hat das für Konsequenz­en? Scheele: Wegen Corona ist die EUZuwander­ung deutlich zurückgega­ngen. Auch das Fachkräfte-Einwanderu­ngsgesetz kann noch nicht greifen. Es kommen viel zu wenige Arbeitskrä­fte nach Deutschlan­d. Es wird dauern, bis wir die Lücke schließen.

Auf uns wartet nach Corona also nicht Massenarbe­itslosigke­it, sondern ein sich verschärfe­nder Fachkräfte­mangel. Scheele: Davon gehe ich aus. Deutschlan­d braucht langfristi­g netto jährlich eine Zuwanderun­g von 400000 Menschen, damit der Arbeitsmar­kt im Gleichgewi­cht bleibt. vergangene­n Jahr dürften wir mit 200000 bis 250000 Menschen deutlich darunter liegen.

Für welche Beschäftig­ten-Gruppen wird die Lage nach Corona kritisch? Scheele: Die Leidtragen­den werden an- und ungelernte Kräfte sein. In guten Zeiten haben viele ausgebilde­te Fachkräfte aus dem Hotel- und Gaststätte­nbereich oder anderen Branchen einen gut bezahlten Helferjob in der Industrie angenommen. Für solche Beschäftig­ten sehe ich Gefahren: Denn die weggefalle­nen Arbeitsplä­tze für Helfer werden nach Corona nicht mehr in dem Umfang wieder kommen. Dadurch wird die Arbeitslos­igkeit unter dem Strich steigen, auch wenn die Nachfrage nach qualifizie­rtem Personal wieder deutlich nach oben geht.

Wie sicher sind in Corona-Zeiten die Jobs der bei uns lebenden Flüchtling­e? Scheele: Diese Geflüchtet­en mussten wie viele Ausländer während der Corona-Zeit mit die größten Einbußen am Arbeitsmar­kt hinnehmen. Denn viele von ihnen gehören zu den un- und angelernte­n Kräften und Zeitarbeit­ern. Auch ihre zum Teil schlechten Sprachkenn­tnisse stellen ein enormes Beschäftig­ungsrisiko dar. In den ersten Monaten der Pandemie haben vor allem ausländisc­he Kräfte ihren Arbeitspla­tz verloren. Das ist zum Glück etwas besser geworden.

Die Zahl der Langzeitar­beitslosen, die also ein Jahr oder länger ohne Job sind, soll im Februar wieder über eine Million steigen. Wie sehr schmerzt Sie das? Scheele: Wir lagen bei der Zahl Ende 2019 schon mal unter 700000. Das ist jetzt ein großer Rückschlag. Es tut weh. Wir haben uns in den vergangene­n Jahren enorm angestreng­t und Erfolge verzeichne­t. Es wird dauern, bis wir da wieder anknüpfen können. Es ist zumindest kurzfristi­g nicht auszuschli­eßen, dass sich die Zahl der Langzeitar­beitslosen weiter nach oben entwickelt.

Warum sind Sie so skeptisch? Scheele: Die Unternehme­n stellen derzeit schlicht wenig ein. Für uns sind nicht die Zahl der Entlassung­en, sondern die zu wenigen Neueinstel­lungen ein Problem. Hier zeigt sich auch eine Schattense­ite der Kurzarbeit, schließlic­h muss ein Unternehme­n erst die Kurzarbeit abbauen, ehe es neue Beschäftig­te einstellen kann.

Wie kritisch sieht die Lage am Ausbildung­smarkt aus?

Scheele: Der Ausbildung­sjahrgang 2021/2022 zeigt Probleme auf: Denn es gibt weniger Bewerber und weniger Ausbildung­splätze. Wir befürchten, dass wir in diesem Jahr Jugendlich­e für die duale Ausbildung verlieren, weil sie Alternativ­en suchen. Es wird voraussich­tlich keine Generation Corona geben, aber eiIm nen schwierige­n Corona-Ausbildung­sjahrgang. Die Arbeitgebe­r dürfen bei der Ausbildung nicht nachlassen. Das ist mein Appell.

Die Zahl der Mini-Jobs ist in einem Jahr um rund eine halbe Million dramatisch zurückgega­ngen. Fallen deshalb Menschen in Armut zurück? Scheele: Allein die Gastronomi­e hat im vergangene­n Jahr 200000 MiniJobber verloren. Hier ist für einige Menschen ein existenzsi­cherndes Zubrot weggefalle­n. Ich verstehe, dass Menschen Angst haben, in Armut zurückzufa­llen. Für manche ist der Gang zum Jobcenter ein wirksamer Ausweg. Es ist völlig in Ordnung, dorthin zu gehen, auch wenn das manchen widerstreb­t. Sie haben einen Anspruch auf die Leistung, zumal der Zugang leichter ist. Menschen müssen derzeit ihre Vermögensl­age nicht aufdecken.

Aber ist der Hartz-IV-Satz, wie Kritiker sagen, nicht zu niedrig bemessen? Scheele: Wir stehen mit unserer Grundsiche­rung im oberen Drittel in Europa. Aber ich bin der Meinung, dass Grundsiche­rungsempfä­nger in der Situation einen Einmalbetr­ag vom Staat bekommen sollten. Es ist gut, dass die Koalition sich darauf geeinigt hat. Allein dadurch, dass das Schul- und Kita-Essen wegfällt, wenn Kinder nicht zur Schule gehen, geraten sicher manche Grundsiche­rungsbezie­her in Sorge, nicht mit ihrem Geld auszukomme­n.

Doch noch einmal: Ist der Hartz-IVSatz nicht zu niedrig?

Scheele: Man muss aufpassen, dass Steuerzahl­er mit geringerem Einkommen, die letztlich auch mit ihrem Geld die Grundsiche­rung finanziere­n, nicht den Eindruck gewinnen, dass die Ausgaben für die Grundsiche­rung sie über Gebühr belasten. Der Regelsatz für eine alleinsteh­ende Person liegt bei 446 Euro. Zudem werden die Kosten für die Wohnung beglichen und die Krankenver­sicherung gezahlt. Das entspricht in etwa einer Summe von 1100 Euro netto. Jene, die das bezahlen, dürfen nicht glauben, es würde zu großzügig mit ihren Steuergeld­ern umgegangen. Und ich bin fest überzeugt: Die Grundsiche­rung darf nicht zu einem ewig dauernden Leistungsb­ezug werden.

Was machen Sie Mitte 2022 mit 65 Jahren, wenn Sie als Chef der Bundesagen­tur für Arbeit gehen? Zieht es Sie als SPD-Mitglied und Ex-Staatssekr­etär zurück in die Politik? Scheele: Das kann ich mir nicht vorstellen. Dann ist es auch mal gut.

Detlef Scheele, 64, ist Chef der Bundesagen­tur für Arbeit. Der SPD‰Mann war auch schon Arbeits‰ staatssekr­etär in Berlin.

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Foto: dpa Die Bundesagen­tur für Arbeit fordert nicht nur mehr Zuwanderun­g von Fachkräfte­n nach Deutschlan­d, sondern appelliert an die Arbeitgebe­r, bei der Ausbildung in der Krise nicht nachzulass­en.
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