Na, dann meckert doch!
Fans genießen den Luxus, in Regelfragen vielseitig desinteressiert zu sein. Das ermöglicht hitzige Diskussionen und rehabilitiert ganz nebenbei den Videobeweis
Na, selbstverständlich redete sich Steffen Baumgart in Rage. War ja auch ein Unding, das sich Schiedsrichter Tobias Stieler wenige Minuten zuvor erlaubt hatte. Er hatte einfach so einem vollkommen regelkonformen Treffer die Gültigkeit erteilt. Baumgart sah das anders. Der Trainer der Paderborner wollte nichts davon wissen, dass einer seiner Schützlinge den Ball berührt hatte, ehe Erling Haaland ihn aufnahm, um ihn zum siegbringenden Treffer für die Dortmunder ins Tor zu schießen. Respektlos sei das Verhalten Stielers gewesen, echauffierte sich Baumgart. Hätte er sich die Szene noch mal in der sogenannten ReviewArea angeschaut, wäre ihm doch aufgefallen, dass der Ball die Richtung nicht verändert hat.
Das tat der Ball allerdings nicht. Das Dumme daran: Es ist vollkommen unmaßgeblich. Stieler hatte wahrgenommen, dass der Ball berührt wurde. Im Kölner Keller wurden fünf Minuten lang Bilder gesichtet, die vielleicht das Gegenteil
hätten beweisen können. Es wurde keines gefunden. Seit etlichen Jahren reicht es, wenn ein verteidigender Spieler den Ball bewusst spielt (und dazu zählt die kleinste Berührung), um eine Abseitsposition aufzuheben. Das muss der Fan nicht wissen, ein Trainer schon eher. Immerhin war die Regel Stieler bekannt. Eine Regel, die mitunter Verteidiger bestraft, wenn sie Pässe verhindern wollen. Sie wurde so gewählt, um im Zweifelsfall der angreifenden Mannschaft einen Vorteil zu verschaffen. Ob es im Sinn der Regel ist, aus einer minimalen Berührung eine neue Spielsituation zu konstruieren, ist eine andere Frage. Sie führt zum Vorwurf etlicher Fans, man kenne sich im Wirrwarr gar nicht mehr aus und Fußball sei ja prinzipiell so ein einfaches Spiel, das immer weiter verkompliziert werde.
Richtig ist: Der Fußball heutzutage hat mit dem Fußball der 70er und 80er Jahre nur noch wenig gemein. Er ist schneller geworden. Die Zahl an kritischen Situationen im und um den Strafraum herum hat sich massiv erhöht. Dem Fußball
wurde zudem gesellschaftlich eine immer größere Bedeutung beigemessen. Fernsehsender zahlen Milliardensummen für Rechte, zig Kameras zeigen das Spiel aus beinahe jeder erdenklichen Perspektive und nicht zuletzt hat die Erregungsbereitschaft im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte massiv zugenommen.
Auch diese Entwicklungen haben dazu geführt, die Regeln so weit es möglich ist, auszudifferenzieren. Abseits ist immer noch, wenn der Schiedsrichter pfeift. Allerdings schadet mittlerweile ein wenig Hintergrundwissen nicht, um zu wissen, wann und warum der Unparteiische denn nun in die Pfeife bläst – oder eben nicht.
Ähnlich verhält es sich beim Daueraufreger-Thema Handspiel. Es sei ja mittlerweile gar nicht mehr verständlich, was nun Hand sei und was nicht, klagen etliche Anhänger. Abwehrspieler wanken mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch den Strafraum. Schaubilder, in welchem Winkel die Arme vom Körper abgespreizt sein dürfen, um einen eventuellen Elfmeterpfiff zu vermeiden, machen die Runde. Alles furchtbar kompliziert. Und notwendig. Es gibt lediglich eine Alternative, um zu einer vereinheitlichten Auslegung zu kommen. Jedes Handspiel – so absurd es auch zustande gekommen sein mag – wird geahndet. Schuss aus 30 Zentimetern an den Oberarm? Elfmeter! Das aber dürfte auch nicht im Sinne der Fußballfans sein. Deshalb wird nach dem bestmöglichen Raster gesucht, um Entscheidungen nachvollziehbar zu machen. Der Graubereich wird verkleinert, abgeschafft aber wird er nicht.
Eben das sollte doch allen Kritikern zusagen, die die Einführung des Videobeweises als Sargnagel für den Fußball empfanden. Die Assistenten an den Monitoren sorgen für mehr Gerechtigkeit. Sogar der Paderborner Baumgart ist ein Fan von ihnen. Aber auch sie machen Fehler. Die große Sorge, der Fußball werde immer steriler und es geben keine Diskussionen mehr, ist nicht eingetreten. Es wird immer noch diskutiert. Wegen Fehlern der Schiedsrichter. Oder der eigenen Unwissenheit. Ein Privileg, das das Meckern erleichtert.