Der russische Impfstoff als politisches Druckmittel
Darf der Westen ein totalitäres Regime stützen, in dem es mit ihm Geschäfte macht? Die Frage stellt sich auch unabhängig vom Kampf gegen die Pandemie
Es klingt nach einer kaum aufzulösenden politischen und moralischen Zwickmühle. Der russische Corona-Impfstoff Sputnik V zeigt in neuen Studien ausgezeichnete Ergebnisse. Er kann Menschenleben retten. Doch sollen westliche Staaten einen solchen Wirkstoff in großem Stil kaufen und damit ein totalitäres Regime stützen? Überspitzt formuliert könnte man darauf hinweisen, dass in russischen Laboren ja nicht nur hilfreiche Mittel wie Sputnik V entwickelt werden. Der Nervenkampfstoff Nowitschok, mit dem zuletzt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny vergiftet wurde, ist auch ein Ergebnis russischer Forschung.
In dieser Lage ist es für viele Entscheidungsträger im Westen vermutlich eine Erleichterung, dass sich die Frage nach einem Sputnik-Ankauf derzeit nicht konkret stellt. Die Hürden für eine Zulassung sind zu hoch und die Produktionskapazitäten gering. Und sollte sich daran im Laufe des Jahres etwas ändern, dann dürften westliche Hersteller bereits so viele Impfdosen produzieren können, dass sich das Sputnik-Problem mangels Dringlichkeit von selbst erledigt. An der grundsätzlichen Frage nach dem richtigen Umgang mit Russland ändert das aber nichts.
Sie lässt sich in die Formel fassen: Konfrontation oder Kooperation, mehr Dialog oder mehr Druck? Zwischen diesen Extremen ist man in der EU hin- und hergerissen. Der französische Präsident Emmanuel Macron versuchte es zuletzt mit einer Charmeoffensive. Er lud seinen russischen Kollegen Wladimir Putin 2019 in seine Sommerresidenz an der Côte d’Azur ein, und noch kurz vor dem Giftanschlag auf Nawalny plauderten die beiden im Videochat. Ein halbes Jahr später gibt Macron nun den scharfen Kremlkritiker. Kurzzeitig schien es sogar so, als würde Paris seine ohnehin nur halbherzige Unterstützung für den Weiterbau der deutsch-russischen Ostseepipeline Nord Stream 2 endgültig versagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte erhebliche Mühe, Macron von ihrer Position zu überzeugen, die da lautet: Der politisch so verstörende Fall Nawalny und der rein wirtschaftlich begründete Pipelinebau haben nichts miteinander zu tun.
Mit dieser schizophrenen Haltung übertrifft die Bundesregierung
alles, was es in der EU an Unentschiedenheit in der Russlandpolitik sonst gibt. Das hat mit sehr speziellen Traditionen zu tun. Vor allem wirkt das 20. Jahrhundert nach: der Vernichtungskrieg der Wehrmacht mit mehr als zwanzig Millionen sowjetischen Toten, die Befreiung durch die Rote Armee, die Gründung der DDR, der Kalte Krieg, „Gorbi“und die Wiedervereinigung. Vor diesem Hintergrund tun sich viele Deutsche schwer, ein nüchternes Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Oft gelingt es nicht einmal, zwischen der politischen Führung und dem Land selbst zu unterscheiden, mit seinen großartigen Menschen, seinem reichen Kultur- und Geistesleben und der faszinierenden Natur. Präsident Putin, seine korrupten Kreml-Clans, seine mordenden Agenten und die prügelnden Polizisten sind nicht Russland, sondern nur ein kleiner Teil, auch wenn sie leider die ganze Macht in Händen halten.
Wer nach einer Antwort auf die Frage sucht, wie die EU und Deutschland mit Putin am besten umgehen sollten, darf deshalb das Ziel nicht aus dem Auge verlieren. Denn so utopisch es klingt, aber das bestmögliche Szenario wäre ein modernes, demokratisches Russland, dessen kluge Köpfe zum Wohle der eigenen Bevölkerung wie auch der Menschheit erfolgreich Impfstoffe, Raumfahrttechnik oder Software entwickeln. Im Westen sollte man sich deshalb auf die Losung verlegen: Konfrontation mit dem Kreml, Kooperation mit den Menschen.
Russland ist mehr als der Kreml und korrupte Clans