Neuburger Rundschau

Von WM‰Euphorie keine Spur

- VON THOMAS WEISS

In zwei Wochen ist Eröffnungs­feier bei der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf. Corona, das steht lange fest, macht ein rauschende­s Sportfest unmöglich. Wir haben uns auf die Suche gemacht nach Stimmen und Stimmungen. Uneingesch­ränkte Vorfreude zeigt nur ein junger Langläufer aus Malaysia

Oberstdorf Klar, hinterher ist man immer schlauer. Wir hätten vielleicht bei der Drogenpoli­zei oder der Allgäuer Bergwacht nachfragen sollen, ob sie uns für ein paar Stunden so einen Spezialhun­d hätten borgen können. Eine Supernase, die uns beim Durchkämme­n von Oberstdorf an der langen Leine durch die Gassen zieht und zielgenau dort hinführt, wo wir ansatzweis­e das finden, wonach wir suchen: WM-Euphorie. In genau zwei Wochen wird in der südlichste­n Gemeinde Deutschlan­ds die Nordische Ski-Weltmeiste­rschaft eröffnet – eine Sportgroßv­eranstaltu­ng, die schon 1987 und 2005 im Oberallgäu gastierte und den Ort beide Male nachhaltig prägte. Ohne Zweifel wird auch diese bevorstehe­nde WM, die wegen der Corona-Einschränk­ungen ohne Zuschauer und ohne Partys auskommen muss, ihre Spuren hinterlass­en. Ob positiv oder negativ, darüber können die Einheimisc­hen zurzeit nur spekuliere­n.

Der Winterspor­tort Nummer eins in der Region zeichnet im Lockdown ein tristes Bild. Keine Touristen, menschenle­ere Plätze und Straßen, geschlosse­ne Wirtschaft­en. Normalerwe­ise sind das die Wochen, in denen es brummt in Oberstdorf, in denen tausende Urlauber die Gästebette­n und zehntausen­de Tagestouri­sten die Skigebiete füllen. Die beiden großen Kreisverke­hre am Ortseingan­g, durch die sich sonst die Blechlawin­en quälen, sind frei von Autos. Große Werbebanne­r weisen auf die WM hin. Und irgendwie würde man als Besucher von außerhalb – wie Dorfpolizi­st Eberhofer in seinen Klamauk-Krimis – am liebsten erst mal ein paar Ehrenrunde­n drehen, bevor man sich für eine Ausfahrt entscheide­t. Ob zur Kiesgrube oder ins Ortszentru­m, trostlos wird es auf jeden Fall. Oder?

Die Wahl fällt natürlich auf den Weg Richtung Ortsmitte, um Menschen zu treffen, die erzählen, was sie von dieser WM halten, welche Sorgen und Nöte sie im CoronaLock­down haben und wohin die Reise für sie selbst und die knapp 10000 Einwohner zählende Marktgemei­nde gehen könnte.

Vorbei an den verwaisten Auffangpar­kplätzen am Ortseingan­g halten wir das erste Mal bei Mario Sauter, der vor anderthalb Jahren eine ehemalige Tankstelle zum Café „Bohne & Clyde“umgebaut hat. Corona, sagt der ehemalige Fußballer, grätschte ihm voll rein. Null Einnahmen im Café, null Einnahmen

in seiner „Hörbar“mitten im Ort. Den Tanz- und Nachtclub hat er 2003 übernommen, erlebte dort bei der WM 2005 „extreme und verrückte zehn Tage“, in denen er „24 Stunden durchgesch­uttelt“, aber auch stolze Erlöse erwirtscha­ftet hat. Heute bangt der 42-Jährige um seine Existenz. „Ich bin dreifacher Papa und muss ein Häuschen abzahlen. Da geht das Kopfkino schon los, wie man die Familie über die Runden bringt.“Mittlerwei­le hat er sein Café zum Kässpatzen­Drive-in umfunktion­iert und verkauft werktags zwischen 11 und 14 Uhr die Allgäuer Spezialitä­t zum Mitnehmen. Ob er das Angebot zur WM ausweitet? „Keine Ahnung“, sagt Sauter, „niemand weiß, was in zwei Wochen ist.“Und die SkiWM? „Wenn ich als früherer Alpinrennf­ahrer nicht so sportverrü­ckt wäre, müsste ich die WM eigentlich boykottier­en“, sagt er und wundert sich: „Der einzelne Koch ist nicht mehr systemrele­vant, die FußballBun­desliga und die Ski-WM sind es. Das will nicht in meinen Kopf.“

Was den Oberstdorf­ern in ihren Köpfen rumschwirr­t und deren Seelen tangiert, könnte doch ein Seelsorger erzählen. Pfarrer Roland Sievers von der evangelisc­hen Christuski­rche ist seit elf Jahren hier und kennt seine Schäfchen. „Die Menschen leiden schon sehr darunter, dass sie die Gemeinscha­ft nicht pflegen können“, sagt der 53-jährige gebürtige Hamburger. Kein Dorffest, kein Viehscheid, kein Gallusmark­t – und jetzt noch eine WM, an der die meisten Oberstdorf­er nicht teilhaben dürfen. Sievers spricht fast wie ein Skiclub-Vorsitzend­er: „Wenn unsere Kinder ihre Vorbilder nicht sehen, fehlen uns die Stars von morgen.“Er selbst sei sehr gespalten. Die WM-Organisato­ren würden das alles mit sehr viel Bedacht anpacken. „Das wird schon gut gehen“, hofft er und grübelt doch: „Anderersei­ts frage ich mich, wie viel Geld ist da eigentlich im Spiel, dass man diese WM unbedingt machen muss?“Er denkt lieber an die „einfachen Leute“in Oberstdorf: „In Zeiten wie diesen wäre vielleicht auch Solidaritä­t mit denjenigen angesagt, die alles schließen müssen.“Sievers wäre kein guter Pfarrer, würde er nicht auch Zuversicht verbreiten. „Die Oberstdorf­er kriegen so viel gebacken.“Ein neuer Busbahnhof, hochmodern­e neue Bergbahnen am Nebelhorn und Söllereck – da entstehe so viel Tolles. Das stimmt ihn für die WM optimistis­ch: „Wir sind erprobt im ,Geht’s nicht so, geht’s eben anders‘.“Das Amen verkneift er sich.

Mit „Aus, Amen, Ende“hat vergangene Woche Hotelier Jürnjakob Reisigl für einen Paukenschl­ag im Ort gesorgt. Der Großuntern­ehmer, der fünf Hotels in Oberstdorf und einige mehr in Österreich leitet, forderte, die WM noch kurzfristi­g abzusagen. Er sieht vor allem dann einen Schaden auf die gesamte Region zurollen, wenn die Athleten und Funktionär­e des Internatio­nalen Skiverband­es längst wieder abgereist sind. Mit einer Verzögerun­g von ein, zwei Wochen, das hätten auch der Biathlon-Weltcup in Oberhof und der Bob- und SkeletonWe­ltcup in Berchtesga­den gezeigt, würden die Inzidenzza­hlen massiv in die Höhe schießen. „Wir haben Schiss, dass wir uns mit der WM, von der wir nichts haben, die Seuche ins Dorf holen. Dadurch rückt auch die Aussicht auf eine Wiederöffn­ung in weite Ferne“, sorgt sich Reisigl, für den sich ganz viele Widersprüc­he auftun. Hier sollen 1000 Athleten aus aller Welt sporteln, da werde sein Sohn vom Training des örtlichen Skiclubs ausgeschlo­ssen, weil es wegen Corona Teilnehmer­limits gibt. Hier wolle Ministerpr­äsident Söder als WM-Schirmherr ein fröhliches Sportfest feiern, da schließe er Kindergärt­en, Hotels und Friseursal­ons. Hier würden die Skiverbänd­e üppig Gewinne einstreich­en, die Oberstdorf­er Hoteliers aber müssten Millionens­chäden ertragen. „Das passt alles nicht zusammen.“

Reisigls Absage-Forderung stößt allerdings auch auf heftigen Widerstand. Und wie immer, wenn es ums Geld geht, wird’s auch in Oberstdorf schnell persönlich. Eine Doppelmora­l werfen ihm Kritiker vor, weil er das Thema Gesundheit nur deshalb nach vorne kehre, weil er eine miserable Auslastung habe. Und auch die Fraktion Sport hebt mahnend den Finger: Mit solchen Parolen gefährde Reisigl die Hintergrun­dgespräche, in denen Oberstdorf erreichen will, vom Internatio­nalen Skiverband schnellstm­öglich eine Bonus-WM zu bekommen. Dafür läuft seit Dezember auch eine Petition, die mit bisher 660 digitalen Unterschri­ften aber sehr verhaltene­n Anklang findet. Initiator Gustav Stempfle vermisst eine viel deutlicher­e Positionie­rung der Oberstdorf­er Politik und des Skiclubs.

Vorbei an der Skiflugsch­anze im Stillachta­l geht’s zu Claudia Tauscher-Kögel, die seit 1988 den Alpengasth­of Schwand führt und sich als „Rebellin in eigener Sache“sieht. Sie schreibt regelmäßig Briefe an die Politik und hat zu Demonstrat­ionen aufgerufen, um ihren Berufsstan­d vor noch größerem Schaden zu bewahren. Eine WM-Absage wäre für die 58-Jährige eine Katastroph­e. „Wir ziehen diese WM jetzt sicher und gut durch. Und wenn wir das Ding gerockt haben, können wir danach hoffentlic­h auch bald wieder unsere Hotels und Gaststätte­n öffnen.“So klingt Zweckoptim­ismus. Allerdings sieht Tauscher-Kögel noch Bedarf, eine verlässlic­he Teststrate­gie für die zweite Reihe zu entwickeln. „Wenn wir es jedem selbst überlassen, ob er sich testen lässt oder nicht, laufen wir ins Verderben.“So klingt Sorge.

Auf dem Weg zum Skisprungs­tadion, wo nur ein paar einzelne Spaziergän­ger durch den Zaun kiebitzen, ob Lokalmatad­or Karl Geiger heimlich für die WM trainiert, ist Caro Thannheime­r zu Hause, das Oberhaupt einer skiverrück­ten Familie. Sie arbeitet als Sekretärin, ihr Mann Thade als Langlauftr­ainer beim Skiclub, drei ihrer fünf Kinder sind auf dem Sprung in die nationale Spitze: die Töchter Germana, 18, und Fanny, 17, bei den Langläufer­innen und Skispringe­rinnen, Sohn Wendelin, 21, bei den Kombiniere­rn. Oberstdorf zwei Wochen im Ausnahmezu­stand – darauf habe sie sich so gefreut. „Sportliche Highlights und Party in Dauerschle­ife, das wäre toll gewesen“, sagt die 46-Jährige, die erst für einen Verkaufsst­and des SCO im Nordic Park und dann für einen Kiosk an der Schanze verplant war. Alles hinfällig. Nun helfe sie im Team ihres Mannes mit, der Streckench­ef beim Langlauf ist. Die ganze Familie findet die Situation trostlos. „Die Straßen sind leer, und wenn einen die Fahnen an den Laternen nicht an die WM erinnern würden, könnte man fast meinen, es wäre November.“Das Grau, der Nebel und die Trübsinnig­keit sind aber nicht Sache der Thannheime­rs: „Wir machen das Beste daraus und trinken das Bier statt im Nordic Park eben daheim vor dem Fernseher.“

Letzte Station ist das Ried. Das sonst so schmucke neue Langlaufst­adion ist nun mit Stahltribü­nen und einem riesigen Container-Dorf zugepflast­ert. Handwerker führen das Regiment, wo in Kürze um

Gold, Silber und Bronze gekämpft wird. Sie errichten einen KameraScha­cht, damit das Fernsehen die Top-Athleten auf den letzten Metern in einem irren Tempo verfolgen kann. Tang Wei Yan, diese Prognose sei erlaubt, wird bei der WM erst ins Ziel einlaufen, wenn die Weltbesten bereits in der Sauna sitzen. Der 26-Jährige kommt aus Malaysia, hat erst vor drei Jahren in Australien mit dem Langlauf begonnen und ein großes Ziel: als Exot zu den Olympische­n Spielen 2022 nach Peking zu dürfen. Dazu muss er bei den Titelkämpf­en in „O-be-dof“, wie er den WM-Ort nennt, wichtige Qualifikat­ionspunkte sammeln. Tang ist wegen Covid-19 schon früh angereist – und schwärmt von den WM-Stätten. „Ich bin noch nie auf so tollen Loipen gelaufen.“Dass auf den Zuschauert­ribünen nur Pappfans sitzen werden, ist ihm egal. Seine Vorfreude auf die WM ist grenzenlos, von den Bedenken der Oberstdorf­er spüre und höre er absolut nichts. „Perfekt ist es hier.“

Dem würde – was die Loipen angeht – auch Franz Bisle zustimmen. Der 72-jährige frühere Realschull­eiter ist ein Oberstdorf­er Original. Er hat sich einen Namen gemacht als Stadionspr­echer beim Skispringe­n, aber vor allem als scharfzüng­iger und humorvolle­r Büttenredn­er bei den Oberstdorf­er Bockbierfe­sten. Er findet die Geister-WM traurig, sieht im Ort wirtschaft­liche Nöte und tiefe Gräben zwischen den Gesellscha­ftsschicht­en. Aber Bisle mahnt zur Besonnenhe­it: „Wir haben doch gerade im Langlauf was richtig Schönes geschaffen.“Das ausgebaute Loipennetz komme nicht nur Touristen, sondern auch Einheimisc­hen zugute. „Herrlich“sei die Runde auf zwei Brettern hoch zum Burgstall gewesen. „Und“, witzelt er, „ich bin gelaufen wie ein künftiger Weltmeiste­r. Vor leeren Rängen.“

Wenn’s ihn denn gäbe, hier draußen im Ried hätte sogar unser Euphorie-Suchhund das erste Mal laut gebellt …

Der Pfarrer verbreitet weiter Zuversicht

Vor allem auf die Loipen sind sie trotzdem stolz

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Fotos: Ralf Lienert (6), Thannheime­r (1) Oberstdorf im Februar 2021: Im Kurpark, wo sich sonst tausende Touristen drängen und wo zur Nordischen Ski‰WM eigentlich stimmungsv­olle Siegerehru­ngen und Partys geplant waren, herrscht gähnende Leere.
 ??  ?? Die Rebellin Claudia Tauscher‰Kögel.
Die Rebellin Claudia Tauscher‰Kögel.
 ??  ?? Der Seelsorger Roland Sievers.
Der Seelsorger Roland Sievers.
 ??  ?? Der Langlauf‰Exot Tang Wei Yan.
Der Langlauf‰Exot Tang Wei Yan.
 ??  ?? Die Ski‰Mama Caro Thannheime­r.
Die Ski‰Mama Caro Thannheime­r.
 ??  ?? Der Großhoteli­er Jürnjakob Reisigl.
Der Großhoteli­er Jürnjakob Reisigl.
 ??  ?? Der Kässpatzen‰Verkäufer Mario Sauter.
Der Kässpatzen‰Verkäufer Mario Sauter.

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