Von WMEuphorie keine Spur
In zwei Wochen ist Eröffnungsfeier bei der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf. Corona, das steht lange fest, macht ein rauschendes Sportfest unmöglich. Wir haben uns auf die Suche gemacht nach Stimmen und Stimmungen. Uneingeschränkte Vorfreude zeigt nur ein junger Langläufer aus Malaysia
Oberstdorf Klar, hinterher ist man immer schlauer. Wir hätten vielleicht bei der Drogenpolizei oder der Allgäuer Bergwacht nachfragen sollen, ob sie uns für ein paar Stunden so einen Spezialhund hätten borgen können. Eine Supernase, die uns beim Durchkämmen von Oberstdorf an der langen Leine durch die Gassen zieht und zielgenau dort hinführt, wo wir ansatzweise das finden, wonach wir suchen: WM-Euphorie. In genau zwei Wochen wird in der südlichsten Gemeinde Deutschlands die Nordische Ski-Weltmeisterschaft eröffnet – eine Sportgroßveranstaltung, die schon 1987 und 2005 im Oberallgäu gastierte und den Ort beide Male nachhaltig prägte. Ohne Zweifel wird auch diese bevorstehende WM, die wegen der Corona-Einschränkungen ohne Zuschauer und ohne Partys auskommen muss, ihre Spuren hinterlassen. Ob positiv oder negativ, darüber können die Einheimischen zurzeit nur spekulieren.
Der Wintersportort Nummer eins in der Region zeichnet im Lockdown ein tristes Bild. Keine Touristen, menschenleere Plätze und Straßen, geschlossene Wirtschaften. Normalerweise sind das die Wochen, in denen es brummt in Oberstdorf, in denen tausende Urlauber die Gästebetten und zehntausende Tagestouristen die Skigebiete füllen. Die beiden großen Kreisverkehre am Ortseingang, durch die sich sonst die Blechlawinen quälen, sind frei von Autos. Große Werbebanner weisen auf die WM hin. Und irgendwie würde man als Besucher von außerhalb – wie Dorfpolizist Eberhofer in seinen Klamauk-Krimis – am liebsten erst mal ein paar Ehrenrunden drehen, bevor man sich für eine Ausfahrt entscheidet. Ob zur Kiesgrube oder ins Ortszentrum, trostlos wird es auf jeden Fall. Oder?
Die Wahl fällt natürlich auf den Weg Richtung Ortsmitte, um Menschen zu treffen, die erzählen, was sie von dieser WM halten, welche Sorgen und Nöte sie im CoronaLockdown haben und wohin die Reise für sie selbst und die knapp 10000 Einwohner zählende Marktgemeinde gehen könnte.
Vorbei an den verwaisten Auffangparkplätzen am Ortseingang halten wir das erste Mal bei Mario Sauter, der vor anderthalb Jahren eine ehemalige Tankstelle zum Café „Bohne & Clyde“umgebaut hat. Corona, sagt der ehemalige Fußballer, grätschte ihm voll rein. Null Einnahmen im Café, null Einnahmen
in seiner „Hörbar“mitten im Ort. Den Tanz- und Nachtclub hat er 2003 übernommen, erlebte dort bei der WM 2005 „extreme und verrückte zehn Tage“, in denen er „24 Stunden durchgeschuttelt“, aber auch stolze Erlöse erwirtschaftet hat. Heute bangt der 42-Jährige um seine Existenz. „Ich bin dreifacher Papa und muss ein Häuschen abzahlen. Da geht das Kopfkino schon los, wie man die Familie über die Runden bringt.“Mittlerweile hat er sein Café zum KässpatzenDrive-in umfunktioniert und verkauft werktags zwischen 11 und 14 Uhr die Allgäuer Spezialität zum Mitnehmen. Ob er das Angebot zur WM ausweitet? „Keine Ahnung“, sagt Sauter, „niemand weiß, was in zwei Wochen ist.“Und die SkiWM? „Wenn ich als früherer Alpinrennfahrer nicht so sportverrückt wäre, müsste ich die WM eigentlich boykottieren“, sagt er und wundert sich: „Der einzelne Koch ist nicht mehr systemrelevant, die FußballBundesliga und die Ski-WM sind es. Das will nicht in meinen Kopf.“
Was den Oberstdorfern in ihren Köpfen rumschwirrt und deren Seelen tangiert, könnte doch ein Seelsorger erzählen. Pfarrer Roland Sievers von der evangelischen Christuskirche ist seit elf Jahren hier und kennt seine Schäfchen. „Die Menschen leiden schon sehr darunter, dass sie die Gemeinschaft nicht pflegen können“, sagt der 53-jährige gebürtige Hamburger. Kein Dorffest, kein Viehscheid, kein Gallusmarkt – und jetzt noch eine WM, an der die meisten Oberstdorfer nicht teilhaben dürfen. Sievers spricht fast wie ein Skiclub-Vorsitzender: „Wenn unsere Kinder ihre Vorbilder nicht sehen, fehlen uns die Stars von morgen.“Er selbst sei sehr gespalten. Die WM-Organisatoren würden das alles mit sehr viel Bedacht anpacken. „Das wird schon gut gehen“, hofft er und grübelt doch: „Andererseits frage ich mich, wie viel Geld ist da eigentlich im Spiel, dass man diese WM unbedingt machen muss?“Er denkt lieber an die „einfachen Leute“in Oberstdorf: „In Zeiten wie diesen wäre vielleicht auch Solidarität mit denjenigen angesagt, die alles schließen müssen.“Sievers wäre kein guter Pfarrer, würde er nicht auch Zuversicht verbreiten. „Die Oberstdorfer kriegen so viel gebacken.“Ein neuer Busbahnhof, hochmoderne neue Bergbahnen am Nebelhorn und Söllereck – da entstehe so viel Tolles. Das stimmt ihn für die WM optimistisch: „Wir sind erprobt im ,Geht’s nicht so, geht’s eben anders‘.“Das Amen verkneift er sich.
Mit „Aus, Amen, Ende“hat vergangene Woche Hotelier Jürnjakob Reisigl für einen Paukenschlag im Ort gesorgt. Der Großunternehmer, der fünf Hotels in Oberstdorf und einige mehr in Österreich leitet, forderte, die WM noch kurzfristig abzusagen. Er sieht vor allem dann einen Schaden auf die gesamte Region zurollen, wenn die Athleten und Funktionäre des Internationalen Skiverbandes längst wieder abgereist sind. Mit einer Verzögerung von ein, zwei Wochen, das hätten auch der Biathlon-Weltcup in Oberhof und der Bob- und SkeletonWeltcup in Berchtesgaden gezeigt, würden die Inzidenzzahlen massiv in die Höhe schießen. „Wir haben Schiss, dass wir uns mit der WM, von der wir nichts haben, die Seuche ins Dorf holen. Dadurch rückt auch die Aussicht auf eine Wiederöffnung in weite Ferne“, sorgt sich Reisigl, für den sich ganz viele Widersprüche auftun. Hier sollen 1000 Athleten aus aller Welt sporteln, da werde sein Sohn vom Training des örtlichen Skiclubs ausgeschlossen, weil es wegen Corona Teilnehmerlimits gibt. Hier wolle Ministerpräsident Söder als WM-Schirmherr ein fröhliches Sportfest feiern, da schließe er Kindergärten, Hotels und Friseursalons. Hier würden die Skiverbände üppig Gewinne einstreichen, die Oberstdorfer Hoteliers aber müssten Millionenschäden ertragen. „Das passt alles nicht zusammen.“
Reisigls Absage-Forderung stößt allerdings auch auf heftigen Widerstand. Und wie immer, wenn es ums Geld geht, wird’s auch in Oberstdorf schnell persönlich. Eine Doppelmoral werfen ihm Kritiker vor, weil er das Thema Gesundheit nur deshalb nach vorne kehre, weil er eine miserable Auslastung habe. Und auch die Fraktion Sport hebt mahnend den Finger: Mit solchen Parolen gefährde Reisigl die Hintergrundgespräche, in denen Oberstdorf erreichen will, vom Internationalen Skiverband schnellstmöglich eine Bonus-WM zu bekommen. Dafür läuft seit Dezember auch eine Petition, die mit bisher 660 digitalen Unterschriften aber sehr verhaltenen Anklang findet. Initiator Gustav Stempfle vermisst eine viel deutlichere Positionierung der Oberstdorfer Politik und des Skiclubs.
Vorbei an der Skiflugschanze im Stillachtal geht’s zu Claudia Tauscher-Kögel, die seit 1988 den Alpengasthof Schwand führt und sich als „Rebellin in eigener Sache“sieht. Sie schreibt regelmäßig Briefe an die Politik und hat zu Demonstrationen aufgerufen, um ihren Berufsstand vor noch größerem Schaden zu bewahren. Eine WM-Absage wäre für die 58-Jährige eine Katastrophe. „Wir ziehen diese WM jetzt sicher und gut durch. Und wenn wir das Ding gerockt haben, können wir danach hoffentlich auch bald wieder unsere Hotels und Gaststätten öffnen.“So klingt Zweckoptimismus. Allerdings sieht Tauscher-Kögel noch Bedarf, eine verlässliche Teststrategie für die zweite Reihe zu entwickeln. „Wenn wir es jedem selbst überlassen, ob er sich testen lässt oder nicht, laufen wir ins Verderben.“So klingt Sorge.
Auf dem Weg zum Skisprungstadion, wo nur ein paar einzelne Spaziergänger durch den Zaun kiebitzen, ob Lokalmatador Karl Geiger heimlich für die WM trainiert, ist Caro Thannheimer zu Hause, das Oberhaupt einer skiverrückten Familie. Sie arbeitet als Sekretärin, ihr Mann Thade als Langlauftrainer beim Skiclub, drei ihrer fünf Kinder sind auf dem Sprung in die nationale Spitze: die Töchter Germana, 18, und Fanny, 17, bei den Langläuferinnen und Skispringerinnen, Sohn Wendelin, 21, bei den Kombinierern. Oberstdorf zwei Wochen im Ausnahmezustand – darauf habe sie sich so gefreut. „Sportliche Highlights und Party in Dauerschleife, das wäre toll gewesen“, sagt die 46-Jährige, die erst für einen Verkaufsstand des SCO im Nordic Park und dann für einen Kiosk an der Schanze verplant war. Alles hinfällig. Nun helfe sie im Team ihres Mannes mit, der Streckenchef beim Langlauf ist. Die ganze Familie findet die Situation trostlos. „Die Straßen sind leer, und wenn einen die Fahnen an den Laternen nicht an die WM erinnern würden, könnte man fast meinen, es wäre November.“Das Grau, der Nebel und die Trübsinnigkeit sind aber nicht Sache der Thannheimers: „Wir machen das Beste daraus und trinken das Bier statt im Nordic Park eben daheim vor dem Fernseher.“
Letzte Station ist das Ried. Das sonst so schmucke neue Langlaufstadion ist nun mit Stahltribünen und einem riesigen Container-Dorf zugepflastert. Handwerker führen das Regiment, wo in Kürze um
Gold, Silber und Bronze gekämpft wird. Sie errichten einen KameraSchacht, damit das Fernsehen die Top-Athleten auf den letzten Metern in einem irren Tempo verfolgen kann. Tang Wei Yan, diese Prognose sei erlaubt, wird bei der WM erst ins Ziel einlaufen, wenn die Weltbesten bereits in der Sauna sitzen. Der 26-Jährige kommt aus Malaysia, hat erst vor drei Jahren in Australien mit dem Langlauf begonnen und ein großes Ziel: als Exot zu den Olympischen Spielen 2022 nach Peking zu dürfen. Dazu muss er bei den Titelkämpfen in „O-be-dof“, wie er den WM-Ort nennt, wichtige Qualifikationspunkte sammeln. Tang ist wegen Covid-19 schon früh angereist – und schwärmt von den WM-Stätten. „Ich bin noch nie auf so tollen Loipen gelaufen.“Dass auf den Zuschauertribünen nur Pappfans sitzen werden, ist ihm egal. Seine Vorfreude auf die WM ist grenzenlos, von den Bedenken der Oberstdorfer spüre und höre er absolut nichts. „Perfekt ist es hier.“
Dem würde – was die Loipen angeht – auch Franz Bisle zustimmen. Der 72-jährige frühere Realschulleiter ist ein Oberstdorfer Original. Er hat sich einen Namen gemacht als Stadionsprecher beim Skispringen, aber vor allem als scharfzüngiger und humorvoller Büttenredner bei den Oberstdorfer Bockbierfesten. Er findet die Geister-WM traurig, sieht im Ort wirtschaftliche Nöte und tiefe Gräben zwischen den Gesellschaftsschichten. Aber Bisle mahnt zur Besonnenheit: „Wir haben doch gerade im Langlauf was richtig Schönes geschaffen.“Das ausgebaute Loipennetz komme nicht nur Touristen, sondern auch Einheimischen zugute. „Herrlich“sei die Runde auf zwei Brettern hoch zum Burgstall gewesen. „Und“, witzelt er, „ich bin gelaufen wie ein künftiger Weltmeister. Vor leeren Rängen.“
Wenn’s ihn denn gäbe, hier draußen im Ried hätte sogar unser Euphorie-Suchhund das erste Mal laut gebellt …
Der Pfarrer verbreitet weiter Zuversicht
Vor allem auf die Loipen sind sie trotzdem stolz