Neuburger Rundschau

Ein Chronist des Arabischen Frühlings

Die Redaktion trauert um Martin Gehlen

- VON RUDI WAIS

Augsburg Martin Gehlen wusste, wovon er schrieb. „Die Bevölkerun­g hat die Nase voll von den endlosen Kämpfen, der permanente­n Misere und dem rücksichts­losen Treiben der Milizen“, heißt es in seinem letzten Text für unsere Zeitung, erschienen vor genau einer Woche und im Ton eher zweifelnd, was die Aussichten auf einen raschen Frieden in Libyen anging. Wenige Tage später erlag der 64-Jährige zu Hause, in Tunis, einem Herzinfark­t. Wie viele andere Redaktione­n, für die Gehlen aus Nordafrika und dem Nahen Osten berichtete, trauern auch wir um einen ebenso kundigen wie geschätzte­n Kollegen – einen Korrespond­enten, dem sein Berichtsge­biet schon früh ans Herz gewachsen war, der dabei aber nie die kritische, analytisch­e Distanz des Journalist­en verlor.

Gehlen, in Düsseldorf geboren, in Erfurt in politische­n Wissenscha­ften promoviert und mit der Fotografin Katharina Eglau verheirate­t, war 2008 nach Stationen bei verschiede­nen Zeitungen nach Kairo gegangen, wo er den Arabischen Frühling buchstäbli­ch aus der Nähe beobachtet­e – seine Wohnung lag nur wenige Minuten vom Tharir-Platz entfernt. Von Kairo aus beschrieb er das Aufblühen der Demokratie­bewegung ebenso eindringli­ch wie deren jähes Ende in weiten Teilen der Region. Er berichtete aus dem Iran und aus SaudiArabi­en und warnte früh davor, bei allem Entsetzen über die Gräueltate­n des Islamische­n Staates im Irak die Lage in Syrien nicht aus dem Blick zu verlieren. 2017 entschiede­n sich Gehlen und seine Frau, Kairo zu verlassen und nach Tunis zu ziehen – zu instabil, um nicht zu sagen gefährlich war ihnen die Lage in Ägypten geworden.

Von Tunis aus zog er im Dezember eine ernüchtern­de Bilanz der Arabellion: „Zehn Jahre später ist alle Euphorie verflogen und aus der Riege der repressive­n Staaten ist eine Achse der scheiternd­en Staaten geworden, ein Niedergang, den die Corona-Pandemie zusätzlich beschleuni­gt. Der katalytisc­he Effekt des Arabischen Frühlings hat die Zerrüttung der arabischen Welt nur weiter vertieft.“Anschaulic­h, eindringli­ch, die Probleme klar benennend und als Mensch so besonnen wie zurückhalt­end: Martin Gehlen war ein Korrespond­ent, wie eine Redaktion ihn sich nur wünschen kann. Er wird uns fehlen.

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Martin Gehlen

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