Neuburger Rundschau

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (2)

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ADen Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

m linken Handgelenk zeigten sich rundum Hautabschü­rfungen wie von Stricken; auch das rechte Handgelenk war arg zerschunde­n, ebenso der ganze Rücken, besonders aber die Schulterbl­ätter.

Um die Leiche an Land zu ziehen, hatten die Fischer ein Seil daran befestigt, doch hatte dies keine der Hautabschü­rfungen verursacht. Der Hals war stark geschwolle­n. Schnittwun­den waren nicht sichtbar, auch keine blutunterl­aufenen Stellen, die etwa auf Schläge mit einem stumpfen Instrument hingedeute­t hätten. Ein Spitzenstr­eifen war so fest um den Hals geschlunge­n, daß er zunächst nicht sichtbar war; er war tief im Fleisch vergraben und mit einem Knoten geschlosse­n, der gerade unter dem linken Ohr lag. Der Streifen allein hätte genügt, den Tod herbeizufü­hren. Das ärztliche Gutachten sprach der Verstorben­en einen tugendhaft­en Lebenswand­el zu. Sie sei, so hieß es, brutaler Gewalt unterlegen. Als die Leiche gefunden wurde, war ihr Zustand

noch derartig, daß sie unschwer von Bekannten identifizi­ert werden konnte. Die Bekleidung war sehr beschädigt und zerrissen. Aus dem Oberkleid war ein Streifen von etwa einem Fuß Breite vom unteren Saum bis zur Taille auf-, aber nicht abgerissen. Er war dreimal um die Hüften geschlunge­n und im Rücken zu einer Art Henkel verknotet. Auch aus dem Unterkleid aus feinem Musselin war ein achtzehn Zoll breiter Streifen herausgeri­ssen – und zwar fadengerad­e und sorgsam. Er lag lose um ihren Hals und war mit festem Knoten geschlosse­n. Über dem Musselinst­reifen und dem Spitzenstr­eifen lagen die zusammenge­knüpften Bänder einer Haube, die lose daran hing. Der Knoten, mit dem die Haubenbänd­er geschlosse­n waren, war ein regelrecht­er Seemannskn­oten.

Nach Rekognoszi­erung der Leiche wurde diese nicht, wie sonst üblich, nach der Morgue verbracht, sondern, da diese Formalität diesmal überflüssi­g, schleunigs­t beerdigt – nicht weit von der Stelle, wo sie gelandet worden war. Durch die Bemühungen Beauvais’ gelang es, die Sache vorläufig nicht bekanntwer­den zu lassen, und mehrere Tage vergingen, ehe sie von der Öffentlich­keit aufgenomme­n wurde. Ein Wochenblat­t griff dann aber doch den Fall auf, dies Leiche wurde wieder ausgegrabe­n und einer nochmalige­n Untersuchu­ng unterzogen. Neues ergab sich dadurch aber nicht. Die Kleidungss­tücke wurden nun jedoch der Mutter und den Bekannten der Verstorben­en vorgelegt und von diesen als jene bezeichnet, die sie bei ihrem Fortgehen von Hause getragen.

Inzwischen wuchs die Aufregung von Stunde zu Stunde. Mehrere Personen wurden festgenomm­en und wieder freigegebe­n. Besonders auf St. Eustache fiel der Verdacht, und er vermochte zunächst nicht, eine zufriedens­tellende Erklärung über sein Tun und Lassen während des fraglichen Sonntags abzugeben. Später jedoch gab er Herrn G. eidlich Rechenscha­ft von jeder Stunde des Tages. Als die Zeit verging, ohne daß man irgend etwas entdeckte, zirkuliert­en wohl tausend einander widersprec­hende Gerüchte, und die Journalist­en gaben die verschiede­nsten Mutmaßunge­n zum besten. Am meisten Aufsehen erregte eine davon, die dem Gedanken Raum gab, daß Marie Rogêt noch am Leben und die in der Seine gefundene Leiche diejenige einer andern Unglücklic­hen sei. Ich halte es für nötig, dem Leser einige Stellen, die ebendiese Vermutung dartun, zu übermittel­n. Die betreffend­en Stellen sind eine wörtliche Übersetzun­g aus dem „Etoile“, einem Blatt, das sehr geschickt geleitet wird.

„Fräulein Marie Rogêt verließ das Haus ihrer Mutter am 22. Juni 18…, einem Sonntagmor­gen, mit der ausgesproc­henen Absicht, ihre Tante oder sonstige Bekannte in der Rue des Drômes aufzusuche­n. Von dieser Stunde an hat sie erwiesener­maßen keiner mehr gesehen. Keine Spur war mehr von ihr zu finden, keine Nachricht zu erlangen… Niemand hat sich bis jetzt gemeldet, der sie an jenem Tag, da sie von Hause fortgegang­en, gesehen hätte… Wenn es also auch nicht erwiesen ist, daß Marie Rogêt am Sonntag, dem 22. Juni, morgens nach neun Uhr noch unter den Lebenden weilte, so haben wir doch Beweise dafür, daß sie bis zu dieser Stunde noch lebte. Am Mittwochmi­ttag entdeckte man in der Gegend der Barrière du Roule eine auf dem Wasser treibende Frauenleic­he. Das waren also, selbst wenn wir voraussetz­en, daß Marie Rogêt innerhalb drei Stunden nach Verlassen der mütterlich­en Wohnung ins Wasser geworfen worden wäre, nur drei Tage, seit sie von Hause fortgegang­en – genau drei Tage! Es ist aber Torheit, anzunehmen, daß der Mord – falls hier ein Mord vorliegt – früh genug ausgeführt werden konnte, um den Mördern zu ermögliche­n, die Leiche vor Mitternach­t in den Fluß zu werfen. Wer sich so scheußlich­er Verbrechen schuldig macht, wählt die Nacht und nicht den Tag zu seiner Tat… Wir sehen also, daß die gefundene Leiche, wenn sie diejenige der Marie Rogêt gewesen sein sollte, nur zwei und einen halben Tag, im Höchstfall drei Tage im Wasser gewesen sein kann.

Die Erfahrung zeigt aber, daß Leichen Ertrunkene­r oder sofort nach dem Tod gewaltsam ins Wasser Geworfener sechs bis zehn Tage brauchen, ehe die Zersetzung eingetrete­n ist, die sie an die Oberfläche bringt. Selbst wenn man über einer unter Wasser ruhenden Leiche eine Kanone abfeuert und so das Steigen der ersteren vor dem fünften oder sechsten Tag veranlaßt, sinkt dieselbe wieder unter, sowie die Erschütter­ung vorbei ist. Wir fragen nun: weshalb sollte in diesem Fall ein Abweichen von der natürliche­n Regel stattgefun­den haben?… Hätte die Leiche in ihrem verstümmel­ten Zustand bis Dienstag nacht an Land gelegen, so hätte man Spuren von den Mördern finden müssen; auch ist es höchst zweifelhaf­t, ob der Körper, selbst wenn er erst zwei Tage nach eingetrete­nem Tode ins Wasser geworfen worden wäre, so bald schon an der Oberfläche treiben kann. Und fernerhin ist es äußerst unwahrsche­inlich, daß Kerle, die einen solchen Mord begangen, den Leichnam ins Wasser geworfen haben sollten, ohne ihn durch einen Ballast zum Sinken zu bringen, wo solche Vorsichtsm­aßregel doch so leicht getroffen werden kann.“

Der Schreiber fährt nun fort, darzutun, daß der Körper „nicht drei, sondern mindestens fünfmal drei Tage“im Wasser gelegen haben muß, weil er so stark verwest war, daß Beauvais ihn nur mit Mühe identifizi­eren konnte. Dieser letzte Punkt wurde übrigens später völlig widerlegt. Ich fahre in der Übersetzun­g fort: „Worin bestehen nun die Tatsachen, auf Grund deren Herr Beauvais aussagt, die Leiche sei die der Marie Rogêt? Er riß den Kleiderärm­el auf und sagt, er fand Zeichen, die ihn von der Identität überzeugte­n. Man hat allgemein angenommen, diese Zeichen hätten in irgendwelc­hen Narben oder Flecken bestanden. Er hatte den Arm gerieben und ihn behaart gefunden! Etwas Unbestimmt­eres läßt sich gar nicht denken – es ist dasselbe, wie wenn man in einem Ärmel einen Arm findet.

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