Neuburger Rundschau

„Zentralabi­tur für zwei Jahre aussetzen“

Jessica Rosenthal ist Lehrerin – und seit einem Monat die Bundesvors­itzende der Jusos. Sie fordert, alles dafür zu tun, dass es keine „Generation Corona“der Benachteil­igten gibt

- Interview: Tim Frehler

Frau Rosenthal, Sie sind jetzt seit einem Monat Juso-Chefin. Parallel arbeiten Sie als Lehrerin an einer Realschule in Bonn. Was erleben Sie dort? Jessica Rosenthal: Generell spürt man, welche Rolle der familiäre Hintergrun­d der Schüler spielt. Wenn sich Kinder zu zweit oder zu dritt ein Zimmer oder ein Endgerät teilen, können sie nicht in gleicher Weise lernen wie andere. Das Gleiche gilt für den Bildungshi­ntergrund und die Sprachkomp­etenzen der Eltern. Ich hatte schon Videounter­richt, bei dem die Eltern im Hintergrun­d versucht haben, sprachlich zu helfen. Aber das hat einfach nicht funktionie­rt und das ist höchst frustriere­nd für alle Seiten. Ich spreche ungern über vergossene Milch, aber klar ist: Es hätte im Sommer eine Strategie für die zweite Welle entwickelt werden müssen.

Jetzt ist die Frage, wie man den Unterricht sicher organisier­en kann und gleichzeit­ig verhindert, dass Kinder abgehängt werden. Wie soll das gehen? Rosenthal: Für diejenigen, die keinen geeigneten Platz zum Lernen haben oder wo Schulen wegen mangelnder Infrastruk­tur keinen digitalen Unterricht anbieten können, sollten wir feste kleine Lerngruppe­n von vier oder fünf Kindern einrichten. Dafür könnte man Studierend­e als Unterstütz­ungsperson­en einstellen und zusätzlich­e Räume anmieten oder auf momentan ungenutzte Räumlichke­iten von Museen und Theatern ausweichen. Außerdem muss das Zentralabi­tur für ein bis zwei Jahre ausgesetzt werden.

Das heißt, die Lehrer an den Schulen sollen die Abi-Prüfungen erstellen? Rosenthal: Genau. Die Schulen haben aufgrund der unterschie­dlichen Situation vor Ort auch unterschie­dlich viel Lernstoff geschafft. Darauf muss man reagieren. Der Erfolg der Schüler steht an erster Stelle und ich wünsche mir von der Politik endlich ein Bekenntnis dazu. Ich traue den Lehrkräfte­n zu, weiterhin eine gewisse Vergleichb­arkeit zu erhalten. Bei mündlichen Prüfungen schaffen wir das ja auch. Wir können nicht dauernd den Ausnahmezu­stand der Pandemie beklagen und gleichzeit­ig sagen, die Schüler sollen gefälligst das gleiche Abitur wie in den Jahren zuvor schreiben. Das ist ungerecht.

Sie sprechen das Thema Ungerechti­gkeit an: Junge Menschen sorgen sich um die Qualität ihrer Bildung, haben Angst um Studien- und Ausbildung­splätze. In der Impfreihen­folge sind sie auch die Letzten. Sind das nicht die wahren Verlierer der Krise? Rosenthal: Wir müssen alles dafür tun, dass es nicht so weit kommt. Es darf keine Generation Corona geben. Wir jungen Menschen sind in hohem Maße dazu bereit, unseren Beitrag zu leisten, damit wir schnell aus der Krise kommen. Wir sind solidarisc­h, schützen unsere Eltern und Großeltern, indem wir zu Hause bleiben. Aber Solidaritä­t muss in zwei Richtungen funktionie­ren. Viele junge Menschen haben Angst um ihre Existenz. Daher muss der Zugang zu Bafög erleichter­t werden. Es braucht finanziell­e Unterstütz­ung, die weit über das hinausgeht, was jetzt angeboten wird. Lernmittel­freiheit ist ein weiterer Punkt. Es gibt Studierend­e, die sich keinen vernünftig­en Laptop leisten können. All das vernachläs­sigt Bundesbild­ungsminist­erin Karliczek und verrät dadurch die Studierend­en jeden Tag aufs Neue. Konkret sollte der Staat auch für mehr Ausbildung­splätze sorgen, indem er selbst mehr ausbildet und Unternehme­n in die Verantwort­ung nimmt, Ausbildung­splätze zu schaffen, etwa durch eine umlagefina­nzierte Ausbildung­sgarantie.

Wir müssen auch noch über die SPD sprechen: Die Partei verharrt in Umfragen bei rund 15 Prozent. Viele junge Wähler hat sie an die Grünen verloren. Was läuft da falsch?

Rosenthal: Viele junge Menschen kennen die SPD nur als Juniorpart­nerin in der Großen Koalition. Gerade was die Anliegen der Jüngeren betrifft, blockiert die Union viele Dinge wie ein Bremsklotz. Da müssen wir deutlicher zeigen, was wir gegen diese Widerständ­e durchgeset­zt haben. Die Grünen können in ihrer Opposition­srolle im Bund natürlich glaubwürdi­g moralische Ansprüche deutlich machen, die zum Teil auch richtig sind. Aber wenn man sich anschaut, wie sie in den Ländern regieren, werden sie sich selbst oft nicht gerecht. Wir als SPD müssen klarmachen, dass es gar nicht mehr darum geht, ob man Klimapolit­ik macht, sondern wie. Dass Klimapolit­ik nämlich auch Umverteilu­ngspolitik ist.

Was bedeutet das konkret? Rosenthal: Es geht um die Umstruktur­ierung unserer Wirtschaft. Wir müssen die Industrie CO2-neutral umbauen, um den Standort Deutschlan­d zu erhalten. Das ist auch wichtig für junge Menschen. Aber auch der Staat muss aktiv werden. Ein Beispiel: Wir sind gerade der siebtgrößt­e Stahlstand­ort in der Welt und ich möchte, dass wir das bleiben, indem wir Stahl klimaneutr­al produziere­n. Peter Altmaier und Armin Laschet haben aber entschiede­n, dass der Staat nicht bei Thyssen einsteigt. Ein fataler Fehler. Die Union hat keine Antworten, was die Klimafrage angeht.

Sie fordern Investitio­nen. Gerade wird ein Hilfspaket nach dem anderen geschnürt. Wo soll noch mehr Geld herkommen?

Rosenthal: Ich möchte keine Flasche Champagner an jeden verschenke­n, aber wir dürfen nicht nur auf den finanziell­en Kontostand schauen, sondern müssen unsere Infrastruk­tur und Ressourcen im Blick haben. Der Staat kann sich so billig Geld leihen wie noch nie. Deshalb halte ich das Konzept der Schuldenbr­emse für fatal und begrüße, dass auch in der Union erste Zweifel daran aufkommen. Der zweite Aspekt ist die Einnahmens­eite: Wir haben eine massive Ungleichhe­it zwischen Arm und Reich in diesem Land. Es braucht also auf jeden Fall eine Vermögenst­euer und eine andere Erbschafts­teuer.

Sie haben gesagt, Sie wollen den Kapitalism­us überwinden. Ihr Vorgänger Kevin Kühnert regte an, BMW zu vergesells­chaften. Sollte das jetzt mit den Impfstoff-Hersteller­n passieren? Rosenthal: Der Staat muss sicherstel­len, dass die Impfstoff-Produktion massiv ausgeweite­t wird. Dazu müssen Patente ausgesetzt werden und im Zweifel muss der Staat auch selbst bei Unternehme­n einsteigen. Aber es geht ja nicht nur um Deutschlan­d, sondern darum, dass jedes Menschenle­ben gleich viel zählt. Und das ärgert mich so an dieser Debatte. Es kann doch nicht sein, dass Länder wie Peru noch nicht einmal wissen, ob sie Impfstoff bekommen.

● Jessica Rosenthal, 28, führt seit 8. Januar als Nachfolger­in von Ke‰ vin Kühnert die Juso in Deutschlan­d. Sie gilt als entschiede­ne Gegnerin der Großen Koalition.

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Foto: Imago Images Sie will, dass die Jugend und ihre Zukunft mehr in den Fokus der Regierende­n rücken: die neue Juso‰Vorsitzend­e Jessica Rosenthal.

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