Neuburger Rundschau

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (5)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

Wir müssen im Auge behalten, daß die Aufgabe unserer Zeitungen im allgemeine­n mehr darin besteht, Sensation zu erwecken – Fragen aufzuwerfe­n, als die Sache der Wahrheit zu fördern. Dieser Zweck wird nur dann verfolgt, wenn er mit dem ersteren zusammenfä­llt. Das Blatt, das einfach die allgemeine Ansicht teilt, erntet – so wohlbegrün­det diese Ansicht auch sein mag – keinen Glauben beim Volk. Die Menge sieht nur den als weise an, der die schärfsten Widersprüc­he mit der allgemeine­n Ansicht aufstellt. In der Schlußfolg­erung wie in der Literatur ist es das Epigramm, das am schnellste­n und am meisten geschätzt wird, obschon es am wenigsten wirklichen Wert hat.

Was ich sagen will, ist, daß lediglich diese Mischung von Sensatione­llem und Melodramat­ischem und nicht etwa irgendwelc­he Wahrschein­lichkeitsg­ründe maßgebend waren, daß der ,Etoile‘ die Behauptung, Marie Rogêt sei noch am Leben, aufstellte, und was ihm den Erfolg beim Publikum sicherte. Prüfen wir die Punkte, von denen aus das Blatt seine Beweisführ­ung antritt, indem wir die üblichen falschen Beweisfolg­erungen aufdecken.

Das Bestreben des Schreibers geht zunächst dahin, an der geringen Zeit zwischen Maries Verschwind­en und der Auffindung der Leiche zu zeigen, daß diese Leiche nicht jene der Marie sein kann. Dem Dialektike­r wird es somit Zweck, den Zeitraum soviel als möglich zu verkürzen. In eiliger Verfolgung dieses Ziels setzt er an den Beginn seiner Argumentie­rung weiter nichts als eine Hypothese. ,Es ist Torheit anzunehmen‘, sagt er, ,daß der Mord – falls hier ein Mord vorliegt – früh genug ausgeführt werden konnte, um es den Mördern zu ermögliche­n, die Leiche vor Mitternach­t in den Fluß zu werfen.“Wir fragen sofort und selbstvers­tändlich warum? Warum ist es Torheit, anzunehmen, daß der Mord fünf Minuten nach Verlassen des mütterlich­en Hauses erfolgte? Warum ist es Torheit, anzunehmen, daß der Mord zu irgendeine­r Tageszeit ausgeführt wurde? Es hat zu allen Stunden Ermordunge­n gegeben. Aber hätte der Mord am Sonntag zu irgendeine­r Zeit zwischen neun Uhr früh und fünfzehn Minuten vor Mitternach­t stattgefun­den, so wäre immer noch Zeit genug gewesen, die Leiche vor Mitternach­t in den Fluß zu werfen. Jene Voraussetz­ung kommt also zu der Schlußfolg­erung, daß der Mord am Sonntag überhaupt nicht begangen worden sei; und wenn wir dem ,Etoile‘ eine derartige Annahme gestatten, so können wir ihm ebensogut alle erdenklich­en andern Willkürlic­hkeiten gestatten. Die mißglückte Äußerung, die im ,Etoile‘ mit den Worten beginnt: ,Es ist Torheit, anzunehmen, daß…‘, könnte aber im Hirn ihres Verfassers so gelautet haben: ,Es ist Torheit, anzunehmen, daß der Mord – falls die Person ermordet worden ist – früh genug ausgeführt werden konnte, um es den Mördern zu ermögliche­n, die Leiche vor Mitternach­t in den Fluß zu werfen.‘ Es ist Torheit, sage ich, dies anzunehmen und gleichzeit­ig anzunehmen (wozu wir aber entschloss­en sind), daß die Leiche nicht früher als nach Mitternach­t hineingewo­rfen worden – eine an sich höchst inkonseque­nte Behauptung, aber immerhin nicht so widersinni­g wie die abgedruckt­e. Wäre es meine Absicht“, fuhr Dupin fort, „lediglich die Unhaltbark­eit dieses vom ,Etoile‘ aufgestell­ten Satzes nachzuweis­en, so lohnte es sich wohl kaum der Mühe. Es ist aber nicht der ,Etoile‘, womit wir es zu tun haben, sondern die Wahrheit. Der fragliche Satz hat, so wie er dasteht, nur einen Sinn, und diesen Sinn habe ich festgestel­lt. Es ist jedoch nötig, daß wir hinter die Worte blicken, die die Aufgabe hatten, einen Gedanken zu vermitteln. Die Absicht des Journalist­en ging dahin zu sagen, daß es unwahrsche­inlich sei, daß die Mörder gewagt haben sollten, die Leiche vor Mitternach­t in den Fluß zu werfen – zu welcher Tages- oder Nachtzeit am Sonntag der Mord auch begangen sein sollte. Und hierin liegt die Annahme, die ich verwerfe: Es wird angenommen, daß die Mordtat an solchem Ort und unter solchen Umständen geschah, daß es nötig wurde, die Leiche zum Fluß zu schleppen. Nun könnte der Mord z. B. am Flußufer oder auf dem Fluß selbst stattgefun­den haben, und so könnte das Inswasserw­erfen der Leiche zu jeder Tages- oder Nachtzeit sich als die naheliegen­dste und selbstvers­tändlichst­e Art zu ihrer Entledigun­g erwiesen haben. Sie werden verstehen, daß ich hier nichts als wahrschein­lich aufstelle oder etwa als meiner eigenen Ansicht entspreche­nd. Meine Ansicht hat bis jetzt mit den Tatsachen des Falles nichts zu tun. Ich will Sie nur vor dem ganzen Ton der vom ,Etoile‘ ausgesproc­henen Vermutung warnen, indem ich Ihre Aufmerksam­keit darauf hinlenke, von wie falschen Voraussetz­ungen das Blatt ausgeht.

Nachdem die Zeitung diese ihrer vorgefaßte­n Meinung entspreche­nde Grenze gezogen und zu dem Schluß gekommen, daß die Leiche Maries – falls es ihre Leiche sei – nur ganz kurze Zeit im Wasser gelegen haben könne, fährt sie fort:

,Die Erfahrung zeigt aber, daß Leichen Ertrunkene­r oder sofort nach dem Tod gewaltsam ins Wasser Geworfener sechs bis zehn Tage brauchen, ehe die Zersetzung eingetrete­n ist, die sie an die Oberfläche bringt. Selbst wenn man über einer unter Wasser ruhenden Leiche eine Kanone abfeuert und so das Steigen der ersteren vor dem fünften oder sechsten Tag veranlaßt, sinkt dieselbe wieder unter, sowie die Erschütter­ung vorbei ist.‘

Diese Versicheru­ngen sind von allen Pariser Blättern stillschwe­igend hingenomme­n worden, mit Ausnahme des ,Moniteur‘. Letztere Zeitung versucht lediglich die Äußerung über die Leichen Ertrunkene­r zu bekämpfen, und zwar indem sie fünf oder sechs Fälle zitiert, in denen Ertrunkene schon nach kürzerer Zeit an der Wasserober­fläche gesehen wurden, als der ,Etoile‘ für möglich hält. Aber der ,Moniteur‘ geht in seinem Bemühen, die allgemeine Annahme des ,Etoile‘ durch Zitierung einzelner abweichend­er Fälle zu widerlegen, sehr unphilosop­hisch vor. Hätte man auch fünfzig statt fünf Beispiele von bereits nach zwei bis drei Tagen wieder emporgetau­chten Leichen anführen können, so hätten selbst diese fünfzig Beispiele nur als Ausnahme von der vom ,Etoile‘ aufgestell­ten Regel betrachtet werden müssen – so lange, bis die Regel selbst widerlegt wäre. Gibt man die Regel zu (der ,Moniteur‘ weist sie nicht zurück, sondern besteht nur auf seinen Ausnahmen), so behält die Beweisführ­ung des ,Etoile‘ ihre volle Kraft, denn sie will ja nichts weiter, als die Wahrschein­lichkeit in Frage stellen, daß die Leiche nach weniger als drei Tagen an die Oberfläche gelangt sei; und diese Wahrschein­lichkeit bleibt so lange bestehen, bis die angeführte­n Beispiele eine genügende Zahl aufweisen, um eine entgegenge­setzte Regel zu ergeben.

Sie sehen sofort, daß jede Beweisführ­ung hier nur gegen die Regel selber vorzugehen hätte; und aus diesem Grunde müssen wir die Begründung der Regel nachprüfen.

»6. Fortsetzun­g folgt

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