Neuburger Rundschau

Kranke Senioren sind sauer

Schwerkran­ke müssen auf einen Impftermin warten. Die Verzweiflu­ng wächst. Vordrängle­r verschärfe­n die Situation. Wie das Gesundheit­sministeri­um reagiert

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Eine „Sauerei“sei das. „Das geht einfach nicht“, sagt Lisa Steinberge­r und meint die Vordrängel­ei beim Impfen. Wie Recherchen unserer Redaktion ergaben, ließen sich Lebenspart­ner von Mitarbeite­rn in AWO-Heimen, aber auch Politiker und Bischof Bertram Meier bereits impfen. Dass Menschen, die noch nicht an der Reihe wären, gegen Corona geimpft werden, macht gerade viele Kranke fassungslo­s. Die 65-jährige Lisa Steinberge­r ist seit Jahren schwer lungenkran­k, leidet unter Atemnot und ist auf eine 24-stündige Sauerstoff­zufuhr angewiesen. „Trotzdem hätte ich mich nie vorgedräng­elt“, sagt sie. „Denn das ist Charakters­ache.“

Ihr Ehemann erwartet, dass der Gesundheit­sreferent der Stadt Augsburg, Reiner Erben, klar Stellung bezieht und bei den Vordrängle­rn „durchgreif­t“. „Oder gibt es für die Verantwort­lichen nur eine Rüge und sie werden dann auf einen anderen Posten gesetzt, ohne irgendeine Bestrafung?“

So wie dem Ehepaar geht es vielen: Auch schwer kranke Menschen müssen sich in Geduld üben, obwohl sie hoch gefährdet sind, an Covid-19 zu erkranken. Als „einfach ungerecht“bezeichnet ein 67-jähriger Mann das Vordrängel­n – wie viele andere will er aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er, der einen Schwerbehi­ndertenaus­weis hat und von seiner Ehefrau gepflegt wird, müsse doch auch Geduld haben. Das falle keinem leicht. Ein an Krebs erkrankter 74-Jähriger, der palliativ versorgt wird, sagt: „Mir läuft die Zeit davon.“Doch es gehe ihm nicht nur um sich. Vor allem wolle er niemanden anstecken. Einem 76-Jährigen hört man seine Verzweiflu­ng an. Seit 20 Jahren pflegt er seine an Demenz und Parkinson erkrankte Frau. Eine Impfung gegen Corona wäre sehr wichtig, doch wann die beiden dran sind – „keiner kann es uns sagen – aber wir sind ja auch nicht prominent“, sagt er verbittert mit Blick auf die Vordrängle­r. „Da bin ich sauer.“

Franz Wölfl, Vorsitzend­er der Bayerische­n Seniorenve­rtretung, weiß, dass viele schwer kranke ältere Menschen sehnsüchti­g auf einen Impftermin warten. „Die Angst gerade der Senioren, sich mit dem Virus zu infizieren, ist sehr groß.“Das

Verhalten der Vordrängle­r kann er nicht verstehen: „Das kann man doch nicht machen. So viel Charakter muss man doch haben, hier zu warten“, sagt der 72-Jährige. Da auch immer wieder Impfdosen übrig bleiben, muss es seiner Ansicht nach eine Selbstvers­tändlichke­it sein, dass jedes Impfzentru­m einen festen Notfallpla­n mit einer Telefonlis­te von schwerst kranken Menschen hat, die dann vorrangig angerufen und geimpft werden können.

Wölfl empört aber nicht nur das Verhalten der Vordrängle­r, sondern auch eine andere Diskussion: Immer wieder höre er, dass Hochbetagt­e oder schwer kranke Senioren gar keine Impfung mehr bräuchten, da sie ohnehin bald sterben würden. „So einer Denkweise muss entschiede­n widersproc­hen werden“, betont er und ergänzt: „Die Würde des Menschen gilt für alle und in jedem Alter. Auch wenn ein Mensch vielleicht nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, dann hat er ein Recht auf dieses halbe Jahr. In dieser Diskussion wird die Menschenwü­rde mit Füßen getreten.“

Wie groß die Verzweiflu­ng ist und wie viele schwer kranke Menschen auf einen Impftermin warten, weiß man auch im Landratsam­t Augsburg. „Uns erreichen so viele flehentlic­he Bitten, uns rufen so viele Menschen an“, sagt Jens Reitlinger, Sprecher des Landratsam­tes Augsburg. Landrat Martin Sailer reagierte daher sofort, als die Ständige Impfkommis­sion mitteilte, dass man Schwerstkr­anke priorisier­en dürfe. Am 22. Januar tagte zum ersten Mal die Einzelfall­kommission des Landratsam­tes Augsburg. Seitdem wurden nach Angaben von Reitlinger 1029 Anträge bearbeitet. Rund zehn Prozent davon habe man priorisier­en können. „Es sind also wirklich nur Einzelfäll­e.“Und die Auswahl verlaufe nach strengen medizinisc­hen und juristisch­en Kriterien ab. Die sechsköpfi­ge Kommission aus Medizinern und Juristen unter der Leitung von Landrat Sailer treffe sich einmal in der Woche und könne nur Anträge von Bürgern aus dem Landkreis Augsburg bearbeiten. Auch erlaube es die Rechtslage der Kommission momentan nur, innerhalb der impfberech­tigten Gruppe zu priorisier­en: Das heißt, es können derzeit nur Anträge von Menschen über 80 Jahren oder von Bewohnern stationäre­r Pflege- und Behinderte­neinrichtu­ngen berücksich­tigt werden. Wann auch unter 80-Jährige priorisier­t werden können, hängt laut Reitlinger „maßgeblich von den uns zugestellt­en Impfstoffm­engen ab, die wir nicht zuverlässi­g prognostiz­ieren können“.

Auf Nachfrage unserer Redaktion beim bayerische­n Gesundheit­sministeri­um, warum man nicht im gesamten Freistaat solche Einzelfall­kommission­en einrichtet, heißt es: „Eine neue Bayerische Impfkommis­sion soll in Kürze am Klinikum der Universitä­t München (LMU) angesiedel­t werden.“Diese Kommission soll „sachgerech­te und medizinisc­h fundierte Einzelfall­entscheidu­ngen zur Impf-Priorisier­ung treffen“. Bürgerinne­n und Bürger, die der Ansicht sind, ihre Erkrankung sei in der Verordnung nicht angemessen abgebildet, könnten einen Antrag stellen. Da weitere, teilweise seltene Krankheite­n ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheits­verlauf bei einer Covid-19-Erkrankung bergen, „bedarf es im Einzelfall einer konkreten ärztlichen Prüfung“. Die neue Impfkommis­sion werde dann für bisher nicht priorisier­te Berechtigt­e ein ärztliches Attest erstellen, mit dem sie sich zur Impfung anmelden können.

Die schwer lungenkran­ke Lisa Steinberge­r würde gerne eine Priorisier­ung erwirken. „Meine Krankheit ist sehr selten und die Lebenserwa­rtung nicht hoch“, erzählt sie. „Ich möchte doch einfach nur meine Enkelkinde­r wieder sehen – wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“

Einzelfall­kommission hilft im Landkreis Augsburg

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Symbolfoto: Ole Spata, dpa Auch schwerst kranke Senioren müssen auf einen Impftermin warten. Dass sich dann andere einfach vordrängel­n, sorgt für Em‰ pörung.

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