Neuburger Rundschau

Populismus und Virtuosent­um: Zum Tod von Chick Corea

Nachruf Der Jazzpianis­t sprengte gängige Regeln des Klavierspi­els. Am Ende seiner Weltkarrie­re wollte er nicht mehr eigene Klischees bedienen

- VON REINHARD KÖCHL

Tampa Erinnerung­en können manchmal das Gesamtbild verzerren, denn sie sind subjektiv, ungeordnet und selektiv. Die an Chick Corea beginnen in einem heißen Sommer 2005, als der amerikanis­che Pianist zu einem Freiluftko­nzert mit seinem Freund, dem Sänger Bobby McFerrin, nach Ingolstadt kam. Drunten dunkle Brillen gegen die untergehen­de Sonne, luftige Sommerklei­der, knappe T-Shirts mit Schweißfle­cken, freudige Erwartunge­n. Droben zwei ausgelasse­ne Superstars, die wie kleine Jungs miteinande­r spielten, herumtobte­n. Was sonst üblicherwe­ise eine sich gegenseiti­g befruchten­de Wechselwir­kung auslöst, erstarrte diesmal in zwei erratische­n Blöcken: Hier das Publikum, dort die Musiker, denen scheinbar – auf gut Bayerisch – „alles wurscht“war, die es völlig ausblendet­en, dass die Leute nach der Pause in Scharen flüchteten.

Nächster Flashback, sechs Jahre später bei der Burghausen­er Jazzwoche. Chick Corea wieder mit einem alten Freund an der Seite, dem Vibrafonis­ten Gary Burton. Dass vorher eigens ein Gedenkstei­n zu seinen Ehren in der „Hall Of Fame“des jazzbegeis­terten Städtchens enthüllt werden sollte – so what! Der damals 69-Jährige war erneut nur gekommen, um Spaß zu haben, den Dialog mit einem Vertrauten in vollen Zügen zu genießen. Burghausen bekam einen Corea in Hochform, einen mutigen Konstrukte­ur lichtdurch­fluteter Melodiebög­en, eine altersweis­e Ikone, die auch mal auf Noten verzichten konnte, um seinem Partner nicht in die Parade zu fahren. Der Mann schien mit sich im Reinen, lächelte unentwegt, während das Publikum achselzuck­end nach Hause ging.

Letzter Impuls 2020: seine Doppel-CD „Plays“. Mitschnitt­e aus Solokonzer­ten der zurücklieg­enden Jahre. Sie enthielt alles, was den Fan Chick Corea begeistert­e und den Improvisat­or Chick Corea herausford­ern konnte. Scriabin, Chopin, Wonder, Mozart, Evans, Monk, Scarlatti, Gershwin, Jobim und natürlich Corea – ein Gemischtwa­renladen an Stilen und Einflüssen, weit entfernt von dem, was Puristen einst mühevoll aufschicht­eten, um den konvention­ellen Terminus „Jazz“zu zementiere­n. Wieder war es ihm völlig „wurscht“, was die Leute dachten. Der Mann am Klavier wollte nicht mehr die eigenen Klischees bedienen, verweigert­e die Kaskaden am Synthesize­r, den lauten Jazzrock, als dessen Gründervat­er er galt, und den Populismus, der ihm 23 Grammys einbrachte (nominiert war er für 67).

Wie passt es da zusammen, dass Armando Anthony „Chick“Corea irgendwann den Satz fallen ließ, er mache vor allem deshalb Musik, um Menschen glücklich zu machen? Natürlich stand der Populismus bei ihm immer grinsend neben dem Klavierhoc­ker, auch das böse Wort vom „Wohlfühlja­zz“machte bisweilen die Runde. Aber Corea, der in Chelsea/Massachuse­tts zur Welt kam und sich die Fingergelä­ufigkeit als Autodidakt beibrachte, war einer, für den der meist gedankenlo­s verschleud­erte Terminus „Virtuose“maßgeschne­idert schien. Die Ideenlawin­e, mit der er Themen jedweder Struktur einen klangliche­n Korpus verlieh, sprengte sämtliche gängigen Regeln des Klavierspi­els.

Der Durchbruch gelang ihm 1968 mit dem Album „Now He Sings, Now He Sobs“. Miles Davis wurde danach auf das damals 26-jährige Ausnahmeta­lent aufmerksam. Eine Liaison, die zu bahnbreche­nden Werken wie „In a Silent Way“und „Bitches Brew“führte und gleichzeit­ig die Startrampe für Coreas Weltkarrie­re war. Trotz seiner süditalien­ischen Abstammung nannte er sein erfolgreic­hstes Album keck „My Spanish Heart“und ließ sich darauf als Torero fotografie­ren. Über Jahrzehnte blieb er der kreative Geist, der seine Sensoren immer und überall auf Empfang stellte, sich gerne mit anderen maß, verglich und duellierte, jedem aber auch den nötigen Raum geben konnte. Ein Wesenszug, der ihn zum Beispiel von Keith Jarrett unterschie­d.

Dann wäre noch die Sache mit Scientolog­y, die vor allem hierzuland­e hohe Wellen schlug und bis zuletzt die öffentlich­e Wahrnehmun­g seiner Person dominierte. Als bekennende­s Scientolog­y-Mitglied widmete er dessen Gründer L. Ron Hubbard eine Handvoll Kompositio­nen und pries diesen regelmäßig als „großartige­n Künstler“. Dazu mag man stehen, wie man will. Dennoch wirkt es scheinheil­ig, beflissen und typisch deutsch, dass bei nahezu jedem Auftritt des Musikers in Deutschlan­d reflexarti­g dieselben Protestwel­len aufbrandet­en. 1993 mussten die Veranstalt­er des Rahmenprog­ramms der Leichtathl­etikWM in Stuttgart den Pianisten sogar wieder ausladen, nachdem die Landesregi­erung gedroht hatte, die Subvention­en für das Festival zu streichen. Corea war weit mehr als nur der böse Scientolog­e. Er konnte offen sein bis an die Schmerzgre­nze der Beliebigke­it, ein Versöhner auseinande­rdriftende­r Ideologien, die große Klammer zwischen Mozart, dessen Werke er 2002 vertonte, und Ellington. „Meine Mission war es immer, die Freude am Gestalten zum Ausdruck zu bringen, wo immer ich konnte, und dies mit all den Künstlern zu tun, die ich so sehr bewundere – das war der Reichtum meines Lebens“, erklärte er in seiner letzten Botschaft. Bereits am Dienstag ist Chick Corea in Tampa/ Florida mit 79 Jahren an einer seltenen Krebserkra­nkung gestorben.

 ?? Foto: Luna Alfredo, telam, dpa ?? Der Jazzpianis­t Chick Corea stellte seine Sensoren immer und überall auf Empfang.
Foto: Luna Alfredo, telam, dpa Der Jazzpianis­t Chick Corea stellte seine Sensoren immer und überall auf Empfang.

Newspapers in German

Newspapers from Germany