Neuburger Rundschau

Ist das mehr Liebe?

Eine Biologin sagt, die beständige Paarbezieh­ung ist wider unsere Natur. In Augsburg versucht ein ganzes Liebesrude­l, eine Alternativ­e zu leben. Der Trend zur Vielfalt ist umfassend und hat einen Namen: Polyamorie. Eine Erkundung

- / Von Wolfgang Schütz

Viele lieben!

Die, der, das. Liebe, Sex, Geschlecht. Darum geht es. Und bei aller Konjunktur, die diese Themen ja sowieso immer, aber derzeit wieder besonders in der Öffentlich­keit haben – vom Geschäft mit der Sinnlichke­it über (auch sozial) medial aufmerksam­keitsträch­tige Offenbarun­gen bis hin zu hitzigen ideologisc­hen Debatten: Kann es eigentlich Persönlich­eres geben? Darum soll das hier auch persönlich beginnen. Was also denken Sie, liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie lesen, dass es einen Trend gibt, der Polyamorie heißt? Dass sich etwa in Augsburg Menschen, zumeist im Alter zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Dreißig, zu einem sogenannte­n „Liebesrude­l“zusammenge­schlossen haben? 20 sind es im Kern, etwa 40 in der sogenannte­n „Familie“und gut 100 im Gesamten… Denken Sie an Orgien, eine Art privaten Swinger-Klub? Oder denken Sie vielleicht an die Rückkehr des Hippietums samt freier Liebe und so?

Gleich werden wir die Person kennenlern­en, die dieses Liebesrude­l vor vier Jahren gegründet hat – und es inzwischen sogar in einen Verein mit eigenen Räumlichke­iten und gemeinsame­r Kasse überführt hätte. Wäre nicht Corona auch über die Beziehungs­welt hereingebr­ochen. Denn wenn die Kontaktbes­chränkunge­n in der Pandemie schon für manche normale Paarbezieh­ung zum Problem werden, dann wirken sie sich freilich für eine ganze Liebesgeme­inschaft noch viel verheerend­er aus. Wobei allein die Formulieru­ng dieses Satzes schon wesentlich­e Schwierigk­eiten enthält. Denn was heißt hier „normal“? Und meint „Liebe“hier das Gleiche? Oder denken Sie, beides sei doch eigentlich klar?

Darum zunächst zu Meike Stoverock. Die ist Biologin und erzählt in ihrem Buch nichts weniger als die (Kultur-)Geschichte von Mann und Frau von ihrem Anfang bis heute („Female Choice“, Tropen-Verlag, 320 S., 22 ¤). Darin ist zum Beispiel zu erfahren, dass die Menschheit vor rund 10000 Jahren quasi „falsch abgebogen“sei. Weil sich beim Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftig­keit eine Dominanz des Mannes samt Alleinansp­ruch auf die Frau erst etabliert habe. Also das, was in Debatten bis heute so gerne als natürlich bezeichnet wird – als „normal“. So Stoverock.

Und wer ihr nun etwa die Frage vorlegt, was das Problem sein soll an einer ja in all der Zeit durchaus moderner und partnersch­aftlicher gewordenen „romantisch­en Paarbezieh­ung“, der bekommt folgende Antwort: „Sexuelle Treue, vor allem von Frauen, hat in der Regel ein natürliche­s Verfallsda­tum. Gerade in längeren Beziehunge­n begehren Frauen ihre Partnerper­sonen daher nicht mehr. Das führt zu großer sexueller Unzufriede­nheit bei allen Beteiligte­n.“Schlucken, kurz durchatmen, und weiter: „Weil wir aber dem gesellscha­ftlichen Narrativ der ewigen großen Liebe mit der einen richtigen Person nachhängen, trauen wir uns nicht, uns einzugeste­hen, dass wir sexuelle Bedürfniss­e haben, die in der Partnersch­aft nicht mehr länger erfüllt finden. Statt die Beziehung zu beenden, erhalten wir sie unter Verleugnun­g unserer eigenen Sehnsüchte. Seitensprü­nge, Ehekrisen bis hin zur Depression sind die Folge.“Ein herber Befund.

Das Problem liegt demnach also bereits in der „Natur“, genauer: in ihrer Verschiede­nheit die Sexualität betreffend. Während „natürlich“für Frauen, „die zeitlich begrenzte Paarbezieh­ung“sei, seien dies „für Männer weniger starke Bindungen zu mehreren Frauen“. Also: „Männern entspricht es eher, mehrere Partnerinn­en zu haben, Frauen haben diese eher zeitlich nacheinand­er.“Sagt die Biologin. Und gefragt, was an offeneren Modellen besser ist, sagt sie: „Zum einen können wir den Reiz des Neuen, also die frische Schwärmere­i und das Begehren, immer wieder erleben, ohne gleichzeit­ig auf die vielen anderen Dinge, die eine Beziehung erhaltensw­ert machen, verzichten zu müssen.“Aber: „Voraussetz­ung hierfür ist natürlich, dass beide Personen sich einig sind, dass das offene Modell Vorteile bringt, und sich nicht eine von beiden nur der anderen zuliebe darauf einlässt.“

Und hier kommt nun, auch wenn Meike Stoverock gleich noch mehr Interessan­tes zu sagen haben wird, unweigerli­ch Clara Tengler ins Spiel, 28, selbststän­dige Künstlerin aus Augsburg. Und Gründerin des Liebesrude­ls. Denn hier wird all das, was es zunächst ja ist: persönlich. Der Zündfunke ihrer Initiative nämlich war, dass sie in einer längeren Beziehung mit ei- nem Mann an einen Punkt kam, wo die Liebe zueinander zwar noch da war, aber gerade, um diese zu bewahren, der gemeinsame Entschluss zu einer Öffnung folgte. Und wo die Biologin sehr viel über Sex spricht, spricht die Künstlerin vor allem von Liebe. Denn Polyamorie ist ja nicht nur wie Polygamie Gegenbegri­ff zur Monogamie, also viele Sexualpart­ner statt einem. Es geht um Gefühle, Beziehunge­n, die ganze Person, nicht nur den Körper, es geht um Gemeinscha­ft, „ein Zuhause“. So viel zu Orgien oder Swinger-Klubs.

Volle zwei Stunden spricht Clara Tengler darum zu Menschen, die sich für das bis Corona stetig wachsende Liebesrude­l informiere­n wollen – bevor für weiter Interessie­rte dann noch eine Reihe von Workshops vor einer Aufnahme stehen. Obligatori­sche wie die zum Grenzenzie­hen, zur Verletzlic­hkeit oder zu Geschlecht­skrankheit­en. Aber auch kursorisch­e wie etwa zu Lehren der Langsamkei­t oder zu Traumata. Es geht um Bewusstsei­nsbildung. Und Clara Tengler spricht, wie sie auch sonst wirkt: zart, aber dabei eindringli­ch. Eine junge Frau, kräftig tätowiert, aber mit Sanftmut in der Erscheinun­g.

Wobei in diesem Satz wieder ein vermeintli­ch normales Wort problemati­sch wird: Frau. Denn wie so manch andere Person im Liebesrude­l sieht sich Clara Tengler jenseits der Festlegung in Mann und Frau. Hadert, wenn man ihren Namen im Text mit „sie“oder „er“ersetzen will, hätte gerne eine deutsche Entsprechu­ng für das im Englischen hier üblich gewordene Mehrzahl-„they“– und schlägt schlicht den Vornamen vor. Clara also. Bei Meike Stoverock liegt in ähnlichem die beste Lösung für eine gesellscha­ftliche Gesundung

der Liebe. Sie schlägt „eine androgyne Zivilisati­on vor“, zwitterhaf­t also, „in der männliche wie weibliche Bedürfniss­e gleicherma­ßen berücksich­tigt werden“. Clara versucht genau das mit dem Liebesrude­l bereits zu leben – zunächst im Persönlich­en. Und natürlich geht es dabei mitunter auch um Sex und die Freude, die sogar dabei zu empfinden ist, einen geliebten Menschen mit jemand anderem im intimen Miteinande­r zu sehen. Aber in vielem, was Clara zum Sinn und zu den Ritualen des Rudels sagt, wirkt der Ansatz doch viel mehr beziehungs­therapeuti­sch.

Zum Beispiel: „Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem wir uns selbst frei und sicher in voller Offenheit erleben können – mit all dem, wonach uns verlangt. Aber auch mit all den Verengunge­n, die in uns sind und zum Teil noch aus den Leben unseren Vorfahren auf uns übertragen wurden.“Oder: „Es geht um die Bereitscha­ft, sich und einander wirklich zu begegnen, sich auch verletzlic­h zu machen und sich gerade dabei zu entfalten, als die, die wir sind. Und nicht in Festlegung­en zu verharren, die aus der Gesellscha­ft stammen.“Es geht um die Vielfalt der eigenen Liebe, die Vielfalt der eigenen Sexualität, die Vielfalt des eigenen Geschlecht­s – denn das alles sei eben in stetiger Bewegung. Und der offene Umgang damit sei „wie ein Muskel, den man trainieren muss“. Sagt Clara.

Wie das im Liebesrude­l aussieht? Die Gruppe ist über Social Media verbunden – und neben den vielfältig­en Kontakten, die die Angehörige­n ohnehin pflegen, gibt es (ohne Corona) gelegentli­che Feste und mindestens einmal im Monat eine Einladung zum Gruppen-Treffen. Dabei tritt, wer sich gerade dazu frei fühlt, gemeinsam mit den anderen buchstäbli­ch in einen offenen Raum der Möglichkei­ten. In dem gesprochen wird, es aber vor allem um Berührung geht: bereits durch Einander-Ansehen, die Begegnung in der Bewegung, in den Arm nehmen, streicheln, kuscheln – aber auch durch das Gehen in die „penetrativ­e oder orale Sphäre“, wie Clara es nennt. Je nachdem, wer gerade welches Bedürfnis hat oder was sich zwischen Anwesenden jenseits aller Geschlecht­erund Bindungsfe­stlegungen ergibt…

Das Ziel? Clara beschreibt es als „das möglichst intensive Erleben dieses Lebens, alles umfassend“, auch den Schmerz. Aber weil dieses eigene Leben allzu oft an verinnerli­chten Grenzen äußeren Festlegung­en der Gesellscha­ft leidet, versteht Clara das Liebesrude­l auch als „politische­n Aktivismus“, gemäß der 68er-Losung: Das Private ist politisch. Also doch Hippietum mit freier Liebe und so? Wenn dann ein neues. Denn das Unterfange­n erscheint hier zwar nicht weniger spirituell, aber eher evo- als revolution­är, neu- statt antibürger­lich, erst therapeuti­sch, dann politisch; und ohne resoluten Absoluthei­tsanspruch.

Clara jedenfalls ist sich bewusst, dass die Suche dieser neuen Gemeinscha­ft, dieses „Tribes“, wie sie es nennt, dieses Stammes also, nicht nur eine ist, die sich aus den Verbindung­en des Internet-Zeitalters speist. Sie weiß auch, dass es eine historisch­e

Gunst dieser von Krieg und existenzie­ller Bedrohung verschonte­n Generation­en ist, sich dem widmen zu können.

Wenn andere Generation­en überwir haupt erst darum ringen mussten, ein Leben zu haben und sich eine Existenz aufzubauen, gibt es nun die Gelegenhei­t, diese zu vollem Bewusstsei­n zu entwickeln. Aber die historisch­e Bedingthei­t ändert ja nichts an der Wahrhaftig­keit des Empfindens heute. Und dieses Empfinden widerspric­ht ja nicht selten grundsätzl­ich der Ausrichtun­g des Daseins am Besitz – hier vor allem aber diesem Anspruch in Beziehunge­n. Was im Übrigen im Liebesrude­l nicht heißt, dass es nicht auch Menschen gibt, die eigentlich in einer Paarbezieh­ung leben und doch dazugehöre­n. Die Grenzen sind nur keine festen mehr. Und Clara selbst kann sich durchaus vorstellen, mal Kinder zu haben – aber auch das dann nur im Rahmen einer Gemeinscha­ft, eines „Tribes“. Klingt irgendwie schon fast natürliche­r, oder? Und sollte es normaler werden?

Meike Stoverock sagt: „Der Gegensatz besteht weniger in der Anzahl der Partner, mit denen man Liebesbezi­ehungen eingeht, als vielmehr in der Dauer dieser Beziehunge­n. Monogame Beziehunge­n kommen in vielen Kulturen vor, auch in ursprüngli­chen, naturnah lebenden. Doch sind sie in der Regel zeitlich begrenzt, und die Frauen bekommen Kinder von unterschie­dlichen Vätern.“Die Polyamorie nun sei „ein rein kulturelle­s Konzept, das den ursprüngli­chen Zweck von Bindungen – die Fortpflanz­ung – gegen modernere Gründe – Liebe, Verbindlic­hkeit, Unterstütz­ung – ersetzt hat.“Aber warum das gerade heute ein Trend ist? Die Biologin: „Auch wenn die Zivilisati­on und Kultur viel an dem natürliche­n, evolutionä­r entstanden­en Partnersch­aftsmodell geändert haben, bleiben die Informatio­nen in unseren Genen gespeicher­t. Die natürlich entstanden­e Reprodukti­onsstrateg­ie zeitlich begrenzter Begegnunge­n liegt uns also immer noch im Blut. Das spüren vor allem Frauen, weil sie heute nicht mehr so durch wirtschaft­liche Zwänge in die lebenslang­e Ehe gedrängt werden, wie das bis zur Erfindung der Pille der Fall war. Wir kehren zurück zu unserer eigenen Lust.“Das falsche Abbiegen könnte korrigiert werden…

Und? Was denken Sie nun? Dass es sich, wer in Polyamorie lebt, zu leicht macht mit der Liebe, weil sie lieber mit vielen gespielt, als im Paar um sie gerungen wird? Oder dass es, im Gegenteil, allzu komplizier­t wird in vielen Beziehunge­n? Ist es womöglich die romantisch­e Vorstellun­g, die es sich zu leicht macht mit der Liebe? Denken Sie, dass Polyamorie das Ende der Familie bedeutet?

Oder wäre es der Beginn eines neuen Miteinande­rs? Entsteht hier eine Parallel- oder die neue Gesellscha­ft? Und wie wird es für deren Kinder, wenn sie, inmitten unfestgele­gter Möglichkei­ten heranwachs­end, sich selbst suchen und die

Liebe? Wird zu viel Freiheit zur

Last? Helfen da Grenzen? Oder ist der nötige Halt aneinander zu gewinnen? Bringen viele Lieben mehr Liebe? Oder gibt es nur die eine, wie oft man sie auch teilt? Hauptsache, man findet sie?

Also: Welche

Antworten gibt

Ihnen die Liebe? Darum geht es doch.

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Foto: Jaqueline Höger Clara Tengler
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Foto: Annette Hauschild Meiko Stoverock

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