Ein Hallelujah für Joe
Nach vier Jahren Dauerstress mit Donald Trump kehrt im Alltag eines US-Korrespondenten ein Stück Normalität ein. Doch einfacher wird die Berichterstattung über den neuen Präsidenten Joe Biden nicht. Das weiß auch unser Mann in Washington
Washington Neulich kam wieder so eine Mail. Im Briefkopf prangte das präsidiale Siegel mit einem eindrucksvollen Adler und bedrohlich vielen Pfeilen in der linken Kralle. „Der Anwalt des 45. Präsidenten Donald J. Trump wird um 21 Uhr bei Fox News ein Interview geben“, stand darunter. Es klang wie eine Drohung aus einer anderen Welt. Eilig habe ich sie in den Papierkorb verschoben.
Die Zeiten, in denen ein unberechenbarer Möchtegern-Autokrat den Korrespondentenalltag in Washington vom frühen Morgen bis spät in die Nacht bestimmt, sind vorbei. Im Weißen Haus regiert nun Nummer 46. Im Rückblick hat das endlos lange gedauert. Erst weigerte sich Trump nach der Wahl im November, das Ergebnis anzuerkennen. Dann spann er immer wildere Wahlbetrugslegenden. Und schließlich stiftete er den Mob zum Aufstand an. So ging die zynische Reality-TV-Show in eine dramatische Verlängerung.
Ja, Joe Biden würde der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein. Immer wieder habe ich das im Dezember und Januar geschrieben. Aber ganz ehrlich: Es fühlte sich lange nicht so an. Doch dann kam das „Hallelujah“.
Am Vorabend seiner Amtseinführung stand Joe Biden vor dem Lincoln Memorial, um der mehr als 400000 amerikanischen CoronaToten zu gedenken. Nach Sonnenuntergang spiegelten sich 400 Lichter in den Reflecting Pools am Fuße des Denkmals, und eine Gospelsängerin stimmte den bekanntesten Song von Leonard Cohen an.
Eigentlich war mir das „Hallelujah“verleidet, seit Trump die wunderbare Ballade von Verfehlungen, Scheitern und Vergebung zur eigenen Selbstbeweihräucherung missbraucht hatte. Nach seiner Präsidentschaftsnominierung im vorigen
ließ er sie von einem Tenor im Garten des Weißen Hauses vortragen, während am Himmel bunte Raketen explodierten. Ein nahezu blasphemisches Schauspiel.
Schärfer hätte der Kontrast also nicht sein können, als die Hymne nun a cappella zum Beginn der neuen Präsidentschaft erklang. Und trotz des ernsten Anlasses wirkte die karge Inszenierung auf mich wie eine Befreiung von all dem bombastischen Schwulst, dem falschen Pathos und dem narzisstischen Drama der vergangenen vier Jahre.
Fast alles scheint sich mit dem Einzug von Joe Biden und seiner
Frau Jill ins Weiße Haus am darauffolgenden Tag geändert zu haben. Statt des täglichen Chaos in der Regierungspolitik gibt es plötzlich geregelte Abläufe. Auf dem TwitterAccount des Präsidenten werden keine persönlichen Attacken, sondern offizielle Erklärungen verbreitet. Die Reden des Präsidenten sind konzentriert und knapp, keine endlosen Bewusstseinsströme. Wenn Biden am Sonntag mit seiner gepanzerten Limousine das Weiße Haus verlässt, dann führt die Fahrt zur katholischen Dreifaltigkeitskirche in Georgetown, nicht zum Golfplatz in Virginia.
Plötzlich macht der „Daily Guidance“, der offizielle Terminplan, den das Weiße Haus an jedem Abend verschickt, wieder Sinn. Unter Trump, der die meiste Zeit vor dem Fernseher verbrachte und dann aus heiterem Himmel Zölle oder Kriege androhte, Minister feuerte und Weggefährten begnadigte, war der Kalender zur Farce verkommen. Folgerichtig stand dort am Ende nur noch vage, der Präsident arbeite „von früh am Morgen bis spät am Abend“. Unter Biden ist der Nachrichtentag wieder planbarer geworden – und auf eine beruhigende Weise auch etwas langweiliger.
An dieser Stelle ist es Zeit für ein persönliches Geständnis: Ja, natürlich ist es angenehmer, über einen Präsidenten zu berichten, der eine freie Presse „existenziell für das Wohlergehen einer Demokratie“nennt, als über einen populistischen Wüterich, der die Medien als „Volksfeinde“diffamiert und seine Anhänger gegen die Reporter aufhetzt. „Ich freue mich auf Sie“, hat der neue Außenminister Antony Blinken uns Journalisten bei seiner ersten Pressekonferenz begrüßt. Das unterscheidet sich stark von der feindseligen Art seines selbstgefälligen Vorgängers Mike Pompeo, der eine Kollegin der Voice of America nach einer kritischen Frage strafversetzen ließ.
Als eine seiner ersten Neuerungen hat Biden die täglichen Pressekonferenzen im West Wing wiedereingeführt, die unter seinem Vorgänger mit unverschämten TäuSommer schungen, Falschaussagen und Beschimpfungen zur üblen Propaganda-Show verkommen und zwischenzeitlich ganz eingeschlafen waren. Die Auftritte der neuen Präsidentensprecherin Jen Psaki unterscheiden sich radikal von denen ihrer Vorgänger. Freundlich, professionell und geduldig tritt die 42-Jährige den Reportern gegenüber und nimmt sich an manchen Tagen mehr als eine Stunde Zeit für die Fragen. „Das ist Ihr Job“, antwortete sie kürzlich verständnisvoll einem Fernsehreporter, der sich entschuldigte, weil er zum gefühlt hundertsten Mal nach den möglichen Kompromisslinien beim Corona-Hilfspaket fragte.
Doch ebenso selbstverständlich beantwortete Psaki, die schon unter Barack Obama für die öffentliche Kommunikation verantwortlich war, die Frage mit einem Allgemeinplatz. Gerne zitiert sie Biden und wiederholt, was ihr Chef gesagt hat. Oder sie erwidert: „Das ist eine interessante Frage. Ich melde mich zurück, sobald ich dazu etwas herausgefunden habe.“Nur einmal hat sie sich zu einer emotionalen Reaktion hinreißen lassen und die Frage eines Reporters nach der Zukunft von Trumps Lieblingsprojekt Space Force spöttisch kommentiert: „Wow, Space Force!“Das gab Ärger. Seither achtet die Sprecherin noch disziplinierter darauf, die Botschaft nicht zu verwischen.
Ohnehin wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass die Berichterstattung durch die Rückkehr zur zivilisierten Ordnung automatisch leichter wird. Im Gegenteil: Das Chaos der Trump-Regierung hatte für die Korrespondenten auch Vorteile. Nicht nur gab es von Anfang an neben den offiziellen Propagandisten auch eine Reihe von Mitarbeitern im Weißen Haus, die wegen interner Machtkämpfe oder aus eigener Geltungssucht vertrauliche Informationen an die Medien durchstachen. Zugleich war Trump trotz zehntausender Lügen auf unfreiwillige Art auf gewisse Weise sehr transparent. Den Gemütszustand des Präsidenten konnte man stets wie auf einem Fieberthermometer bei Twitter ablesen. So sehr er die Journalisten verachtete, so wenig konnte er auf die eigene Präsenz im Fernsehen verzichten. Bereitwillig stellte er sich daher vor jedem Abflug den Fragen der Reporter. Gelegentlich rief er sogar kurzerhand bei seinem Lieblingssender Fox News an und redete sich eine Stunde lang den Frust von der Seele.
Das ist bei Biden anders. Der Präsident ist für seine Neigung zu Versprechern
in freier Rede bekannt. Entsprechend streng kontrollieren seine Berater die Botschaft. Nach seinen Auftritten lassen sie nur wenige oder gar keine Fragen zu. Wenn Biden den Kontakt zu Bürgern sucht, ist die Öffentlichkeit nur zeitlich versetzt dabei wie bei dem Telefongespräch, das er vor gut einer Woche mit einer Frau in Kalifornien führte, die in der Pandemie ihren Job verlor. Anschließend stellte das Weiße Haus ein professionell geschnittenes Video ins Netz.
Dabei sind der direkte Austausch mit Menschen und die Fähigkeit zur Empathie eigentlich die Stärke von „Middleclass-Joe“. Im Vorwahlkampf in Iowa oder South Carolina vor einem Jahr habe ich das erlebt: Da stürmte Biden nach gelegentlich etwas hölzernen Reden wie befreit auf die Zuhörer zu. Er klopfte Schultern, posierte für Selfies und hörte öfter auch einfach nur zu. Er wirkte authentisch, emotional und frei von Attitüden – das direkte Gegenteil des selbstverliebten Amtsinhabers in Washington. Man musste ihn sympathisch finden.
Doch die Corona-Krise und die verschärfte Sicherheitslage nach dem gescheiterten Putschversuch haben vieles verändert und die Möglichkeiten der Journalisten zum direkten Kontakt mit den politischen Akteuren drastisch eingeschränkt. Viele Veranstaltungen finden nur virtuell statt. Bei anderen ist nur ein kleiner Pool von Vertretern der Agenturen und großen amerikanischen TV-Stationen zugelassen. Im Briefing-Room des Weißen Hauses, der in der Realität ohnehin viel kleiner ist, als er im Fernsehen erscheint, dürfen zur Minderung des Ansteckungsrisikos nur ein Drittel der 49 Plätze besetzt werden. Ausländische Korrespondenten haben da kaum eine Chance.
Immerhin kann man mit dem Kongress-Presseausweis noch die zahlreichen Stacheldrahtzäune passieren, die das Kapitol angesichts der rechtsradikalen Terrorgefahr neuerdings wie eine Festung von der Außenwelt abriegeln. Früher habe ich auf dem Platz zwischen dem eindrucksvollen Kuppelbau und dem strahlend weißen Supreme Court oft die friedliche Erhabenheit der jahrhundertealten amerikanischen Demokratie genossen.
Als ich neulich dort war, marschierte gerade eine Hundertschaft von Nationalgardisten in Tarnanzügen vorbei, und Marjorie Taylor Greene, eine rechtsextreme Verschwörungsfanatikerin und Republikaner-Abgeordnete, gab eine improvisierte Pressekonferenz. „Wir haben eine tyrannische Regierung“, wetterte die glühende Trump-Anhängerin und zeterte über angebliche Freiheitsberaubung und Sozialismus.
„Amerika ist zurück“, hatte Joe Biden am Tag zuvor noch voller Optimismus verkündet. Da redete er über das von Trump verachtete internationale Parkett. Ein Hoffnungsschimmer. Doch bis die zerrissene Nation im Inneren das giftige Erbe ihres Ex-Präsidenten überwunden hat, wird noch viel Zeit vergehen.
Der offizielle Terminplan macht plötzlich wieder Sinn
Die Berater kontrollieren jetzt streng jede Botschaft