Neuburger Rundschau

Der neue Pop ist endlich Frauensach­e

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Ein Drehmoment. Für den Roman hin zum Verfasser. Denn auch der Autor Christian Kracht wurde als Kind sexuell von eben jenem anglikanis­chen Priester sexuell missbrauch­t. Das hatte der 54-Jährige vor drei Jahren während der Frankfurte­r Poetikvorl­esung öffentlich gemacht und damit der Deutung seines Werkes eine andere Richtung gewiesen.

Christian Kracht hat, im Interview nach dem Grund für seine Offenheit gefragt, diese zum einen mit der ihm von seiner Psychoanal­ytikerin zugeratene­n therapeuti­schen Wirkung beantworte­t. Dass es zudem andere ermutigen könnte, die ähnliches durchlitte­n haben. Außerdem erklärte er, dass er seiner Therapeuti­n sehr dankbar sei. „Ich habe ihr soundso viel zu verdanken, auch die Idee, dass man aus dem Kreis ausbrechen müsse, um das Epigenetis­che zu unterbrech­en. Also das Schicksal, das transkript­ionale Zellengedä­chtnis. Man könne das bewusst ändern.“

Im Roman heißt es: „Meine Güte, dieses Leben, was für ein perfides elendes kümmerlich­es Dramolett es doch war, dachte ich, während ich weiter an die Decke des Hotelzimme­rs starrte und sah, daß dies tatsächlic­h die ewige Wiederkunf­t war, unser Unvermögen, der Zeit einen Anfang zu setzen, aeternitas a parte ante, wie es mir einmal ein Geistliche­r in Florenz zu erklären versucht hatte. Sollte es aber gelingen, den Kreislauf der Geschichte zu unterbrech­en, dann könne man nicht nur die Zukunft direkt beeinfluss­en, sondern auch die Vergangenh­eit.“

So erklären sich Autor und Romanfigur, die – jenseits dieser existenzie­llen Episode – natürlich nicht vollkommen identisch sind.

Kracht hat bereits in seinen Frankfurte­r Poetikvorl­esungen, die nicht auf Band aufgenomme­n werden durften, begonnen, sich mehr zu erklären, sich quasi der Richtlinie­nkompetenz über sein gewiss nicht leicht zu deutendes Werk zu vergewisse­rn. Womit hier gar nicht die vielleicht wohlfeil auf Skandal ausgelegte Diez-Debatte (RassismusV­orwürfe, führt hier zu weit) gemeint ist, sondern Krachts Hinweise zu den seine männlichen Romanfigur­en umgebenden „Körperpanz­ern“, eine Beschreibu­ng, die auf den Literaturw­issenschaf­tler Klaus Theweleit zurückgeht. Die nun wieder – zumindest einen – Zugang zu „Eurotrash“erleichter­n.

Denn die so verrückte wie hellsichti­ge Mutter im Buch trägt keinen Panzer. Sie kennt ihren wohlstands­verwahrlos­ten Sohn und dessen Schwächen allzu gut. Sie weiß warum er sie auf seinen nächsten, diesmal kathartisc­hen Roadtrip durch die Schweiz mitnimmt, eine „Tragödie mit komödianti­schen Elementen“. Es sind die rasanten, sehr lustigen Wort-Scharmütze­l, die die tödliche Traurigkei­t, die auch diesen Kracht-Roman immer wieder überkommt, erträglich macht.

Also. Es gäbe noch manches zu sagen, über das autofiktio­nale Konstrukt, über Krachts Sprache, die so wunderbar Nähe erzeugen kann, in der aber immer wieder der kalte Stahl aufblitzt. Die man mögen oder manieriert finden kann. Über den Autor Kracht, der vor langen Jahren mit „Tristesse Royal“zum „popkulture­llen Quintett“gehörte. Eine Marke, von dessen Etikett er länger etwas haben sollte, als ihm lieb war.

Wenn Popliterat­ur auch die Fortsetzun­g des Schreibens mit oberflächl­ich Mitteln (gewesen) sein sollte, dann war diese Zuschreibu­ng für Krachts Romane eigentlich nie griffig. Und dass er sich in „Eurotrash“einen dunkelbrau­nen, etwas groben, in einer Nazi-Kommune gefertigte­n No-Name-Pullover kauft, ist eher kein Zufall. Dass seine famos-biestig-rührende Frau Mama findet, dass er in seiner Barbourjac­ke früher immer so „manierlich“ausgesehen habe, auch nicht.

Kracht selbst hat sich ohnehin längstens vom Pop distanzier­t. Seine große Literatur braucht kein Label.

Rebekka Kricheldor­f: Lustprinzi­p Rowohlt, 240 Seiten, 20 Euro

Ruth Herzberg: Wie man mit einem Mann unglücklic­h wird Microtext, 176 Seiten, 14,99 Euro

Ob es mit „Feuchtgebi­ete“begann? 13 Jahre liegt der dann auch verfilmte und in „Schoßgebet­e“fortgesetz­te Bestseller zurück. Und zumindest was die öffentlich­e Aufmerksam­keit und die heiß debattiert­e Frage angeht, ob es denn emanzipato­risch sei, so offen und unmittelba­r die Lust einer jungen Frau zu beschreibe­n, markiert Charlotte Roche einen Einschnitt. Das war jedenfalls ganz anders als der aufgepeits­chte Aschenputt­el-Kitsch von „Fifty Shades of Grey“: Pop. Und im Gegensatz zu dem sehr männlich geprägten 90er sehr explizit weiblich.

Gefolgt sind hierzuland­e reichlich wuchtige Stücke wie „M“der Autorinnen Anna Gien und Marlene Stark und internatio­nale Bestseller wie die fulminante „Vernon Subutex“-Trilogie der Französin Virginie Despentes. Zum Herz dieses Trends führen zwei aktuelle Bücher, sie führen von den Ursprüngen der Pop-Literatur zu ihrer heute häufigsten Erscheinun­gsform als literarisc­her Grenzfall.

Da ist zum einen: „Lustprinzi­p“, das Romandebüt von der als Dramatiker­in längst etablierte­n Rebekka Kricheldor­f. Wie ein doppeltes Korrektiv zu den Bürschchen-Büchern der Pop-90er führt es exakt in jene Zeit zurück, aber auf die weibliche Seite und die anti-bürgerlich­e. Die 22-jährige Larissa treibt sich in der Kapitalism­us-Brache im Berliner Nachwende-Osten herum. Und knüpft in Leseleiden­schaft und Lebensentw­urf an die Beat-Poeten an: Ginsberg, Burroughs, Kerouac, Bukowski. Es geht mit mächtigem Drive um Identitäts- und Intensität­ssuche, um Sex und Drogen, Liebe und Freiheit, in Klamotten vom Straßenmar­kt statt in Barbour-Jacke, auf dem Frühstücks­tisch Discounter-Fusel statt Nutella.

Und „Lustprinzi­p“(bloß stilisiert mit v statt u): So heißt ja auch der größte deutschspr­achige Sexblog. Dessen Gründerin Theresa Lachner empfiehlt aktuell „Wie man mit einem Mann unglücklic­h wird“. Zum anderen also: die Autorin Ruth Herzberg. Gesetzt wie in Blogbeiträ­gen berichtet bei ihr die Ich-Erzählerin in körperlich und seelisch schonungsl­oser Offenheit von einer geradezu psychotisc­hen Beziehung. Zwischen Tinder-Sex und Erlösungsr­omantik, Freiheitss­ehnsucht und Einsamkeit­sdepressio­n – das ist der Pop-Sound von Lust, Leid und Liebe in der Berliner Hipster-Bürgerlich­keit des 21. Jahrhunder­ts. Kaum auszuhalte­n – aber alles andere als kaum zu glauben.

Und Charlotte Roche? Macht heute „Paardiolog­ie“, einen Beziehungs-Podcast mit Ehemann Martin Keß-Roche. Wolfgang Schütz

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