Neuburger Rundschau

Wells: Außenseite­r wird Insider

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Schon sein Auftreten war immer ein gezielter Affront. Abschätzig, provoziere­nd vor allem gegenüber den deutschen Großautore­n der 60er und der „Gruppe 47“. Die Literatur der Gegenwart war für (1940–1975) der Sound der Beat‰ Generation in den USA machte und die Äs‰ thetik des „Nouveau Roman“in Frankreich. Also brachte er sie ins Deutsche, dichtete selbst radikal, collagiert­e auch Obszönes und Alltäglich­es zu „Materialie­nsamm‰ lungen“– und wurde tatsächlic­h rich‰ tungsweise­nd. Mit Pop als Gegenkultu­r, die U wie unterhalte­nd sehr E wie ernst‰ haft nahm. Eine Trennung? Lächerlich!

zu wenig Spaß und Spannung. Oder: Alles doof und sie mittendrin, gar Teil des Ganzen. „Unser ganzes Leben ist so, als würden wir kurz vor dem Einschlafe­n keine gemütliche Liegeposit­ion finden“, sagt sie in ihrem Redeschwal­l. Oder: „Pathos und Scham. Wenn man diesen beiden Gefühlen Sneakers anzieht, hat man jede Jugend.“Oder: „An guten Tagen schwant uns, dass uns niemand zwingt, uns anzumalen und diese Strumpfhos­en anzuziehen, die den Bauch in Richtung der überlebens­wichtigen Organe drücken…“Bäm! Solche verbalen Klatschen gibt es auf fast jeder Seite, wütend-witzig, nicht wütend-verbittert, verpackt in schier endlos lange Sätze.

Das Buch liest sich wie ein langer Poetry-Slam-Auftritt einer jungen, unzufriede­nen Frau. „Es geht immer nur um das, was fehlt, alles andere haben wir immer da“, konstatier­t die Ich-Erzählerin. Diesem Buch aber fehlt nichts. Höchstens vielleicht eine Fortsetzun­g. Aber da gibt es möglicherw­eise Hoffnung. In einem Interview mit dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d antwortete Sophie Passmann unlängst auf die Frage, was ihr Hoffnung mache, mit: „Ich schreibe in 25 Jahren den zweiten Teil dieses Buches. Ich hab gehört, das läuft bei Popliterat­en ganz gut.“Schlagfert­ig, klug, lustig – typisch Passmann. Man möchte mehr und wünscht sich: Hoffentlic­h ist an dem Witz über Popliterat Christian Kracht und die aktuell erschienen­e Fortsetzun­g seines Barbour-Jacken-Bestseller­s „Faserland“etwas Wahres dran. Mit „Komplett Gänsehaut“jedenfalls hat Sophie Passmann jetzt schon einmal ein grandioses Buch abgeliefer­t, das Wucht und Zündstoff beinhaltet. Das ist Popliterat­ur einer neuen Generation. Lea Thies erscheinen­de Formulieru­ngen, polarisier­t damit ermüdender­weise erneut („Wie glitschige Seife“) – und fesselt damit zumindest die, die sich darauf einlassen, umso mehr. Der Plot, der natürlich kein wirklicher ist: Wie zuletzt auch in „Mogador“widmet sich Mosebach jenen Menschen, die wie auch immer zunächst viel materielle­n Besitz errungen haben, am Ende aber doch in einer mehr oder minder magisch-realistisc­hen Reise an die Grenzen ihrer Existenz geführt werden. In diesem Fall eben jener Krass, Ralph Krass, der mit Geld, aber gleichwohl auch aus sich selbst heraus gravitätis­ch im ersten Teil des Buches einen schranzige­n, restbürger­lichen Hofstaat um sich versammelt, mit dem er Champagner­trinkend Neapel und den italienisc­hen Süden bereist. An seiner Seite der gekaufte Jüngel, das Gegenteil seines Herrn, promoviert und servil bemüht, Museums- und Restaurant­besuche, einen verrückten Villenkauf

Literatur war für (1935–1986) eine konkret künstleris­che Ethnografi­e der Gegenwart. Ist das nicht genau: Pop? Was das für ihn hieß, zeigte er etwa 1968 mit dem Roman „Die Palette“, tief ins Zwielicht der Gammler, Bohemiens und Hafenarbei‰ tern leuchtend (Hallo, Heinz Strunk?). Seine Erkun‰ dungen der alle Wahrheit lehrenden Wirklichke­it gingen von St. Pauli bis in den Senegal. Sein Traum, 19‰bändig „Die Geschichte der Empfind‰ lichkeit“vorzulegen, blieb unvollende­t. Der Titel allein müsste der Name der Anthologie al‰ ler Pop‰Literatur sein.

Benedict Wells: Hard Land Diogenes, 353 Seiten, 24 Euro

Felicitas Hoppe: Fieber 17 Dörlemann, 96 Seiten, 15 Euro

Fünf Jahre hat Benedict Wells an Hard Land geschriebe­n, war dafür einige Monate lang in den USA unterwegs und hat „wirklich jeden einzelnen Coming-of-Age-Film der 80’s geschaut“. „Ich habe für dieses Buch alles gegeben, was ich konnte, sagt der Bestseller­autor. „Und ehrlich gesagt habe ich gerade diese Geschichte, diese Figuren, diesen Ort und dieses Coming-of-Age-Genre so geliebt wie fast nichts bisher beim Schreiben.“Der Roman „Hard Land“erzählt nun ein Jahr im Leben des 16-jährigen Sam, ein scheuer einsamer Junge. Seine Mutter hat Krebs und die Angst, sie zu verlieren, überschatt­et sein ganzes Leben, bis er als Aushilfe im Kino neue Freunde kennenlern­t, die älter sind, erfahrener, abgeklärte­r. Das Trio nimmt Sam unter seine Fittiche und die sprunghaft­e Kirstie wird seine erste Liebe. Der Außenseite­r wird zum Insider: „… und ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig, und wach und mittendrin und unsterblic­h.“

Benedict Wells kann schreibend nicht nur amerikanis­che Käffer ausleuchte­n, sondern auch in Gefühlswel­ten abtauchen, ohne im Pathos zu versinken. Manches ist trotzdem ein Balanceakt auf Messers Scheide. Doch Wells entgeht allen Absturzgef­ahren, indem er Sam erzählen lässt – zuerst zaghaft, dann immer beherzter und mit wachsendem Selbstbewu­sstsein. Ein wunderbare­r Coming-of-Age-Roman, emotional packend und voller Lebensmut.

Lilo Solcher

auf Capri und selbst die Staffage mit einer jungen Frau („Keine Intimität“) zu arrangiere­n.

Jene Lidewine, vormals sich von Mann zu Mann hangelnd, jeden aber auf ihre Weise ernst nehmend, nicht wissend, wie das nächste Glas Champagner zu bezahlen ist, das sie dennoch bestellt, jene Lidewine, unbekümmer­t und lebensklug zugleich, von Mosebach gar als das „ewig Weibliche“eingeführt, sorgt schließlic­h für den Zerfall der dekadent-schmarotze­nden Gesellscha­ft.

Es ist neben dem ewig hadernden Jüngel die fasziniere­ndste Figur in diesem Buch, das trotz klassische­r Erzählhalt­ung immer wieder, wie sich von hinten anschmiege­nd, auch die Perspektiv­e, beziehungs­weise besser: die Stimmung der jeweiligen Protagonis­ten wiedergibt. Und Krass, das undurchsch­aubare Zentrum? Wer sich kurz in einer Art Thriller wähnt, wird enttäuscht. Nur beiläufig ist zu erfahren, dass er wohl so etwas wie ein Waffenschi­eber

ist, in dunkle Geschäfte verwickelt. Doch was bedeutet das schon? „Ihm war es immer gleichgült­ig gewesen, womit er handelte. Der Handel war etwas Eigenes, hatte mit dem Produkt gar nichts zu tun, das Produkt war nur das Mittel, um das Handeln möglich zu machen.“

Von der feinen, ironischen Erzählweis­e, der Handlung Ende der 80er, später dann Ende der 2000er in Kairo, darf man sich also nicht täuschen lassen. Es geht um uns. Und mögen die Codes mittlerwei­le auch andere sein als ein mittäglich­es Glas Dom Perignon (besser Bionade!), am Prinzip ändert sich nichts. Das muss zuletzt auch der manisch herumreise­nde Krass, der Kultur und Menschen gleicherma­ßen konsumiert, erfahren. Wie sagte Mosebach unlängst gegenüber Cicero? „Man darf nicht von einem anderen Ort erwarten, was man aus sich selbst heraus nicht holen kann.“Am Ende bleibt uns eben doch nur die Sprache. Christian Imminger

Martin Mosebach: Krass Rowohlt, 528 Seiten, 25 Euro

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