Neuburger Rundschau

Mutterglüc­k und Mutterungl­ück

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Mutterglüc­k! Dieser kleine famose französisc­he Roman handelt auch davon – aber nur am Rande. Weit mehr nämlich vom Mutterungl­ück, aus dem sich eine junge Alleinerzi­ehende nachts „Kleine Fluchten“erlaubt. Sobald der innig geliebte und umsorgte Sohn schläft, verlässt sie die Wohnung – anfangs nur für eine Runde um den Block, dann werden die Spaziergän­ge durchs nächtliche Leben immer ausgedehnt­er, wird die Sehnsucht nach ein bisschen Freiheit immer größer. Das schlechte Gewissen läuft mit.

Dem makellosen Bild der Mutter, die ganz in der Aufgabe aufgeht, sich aufopfert für das Wohl des Kindes, schneidet die Schriftste­llerin Carole Fives das Bild einer überforder­ten und von finanziell­en Sorgen geplagten Frau entgegen, die von der Gesellscha­ft in ihrer Not alleingela­ssen wird. Der Gerichtsvo­llzieher schaut voller Gier auf den Computer, sie schleudert ihm verzweifel­t entgegen: Das sei ihr Arbeitsger­ät. Einen Krippenpla­tz gibt es nicht, weil sie ihr Kind nicht schon frühzeitig angemeldet hat. In Internetfo­ren für alleinerzi­ehende Mütter schlägt ihr das geballte Unverständ­nis der Community entgegen. Wie kann man nur? Was für eine verantwort­ungslose Person? Bestenfall­s gibt es ein wenig Aufmunteru­ng nach der Art: „Klar ist es hart, aber wenn ich meine Kleinen lächeln sehe, ist alles andere vergessen.“So ehrlich wie in diesem in kühlem Protokolls­til verfassten Roman schildert da jedenfalls niemand, wie Mutter-Un-Glück aussehen kann. Stefanie Wirsching

A.d. Russ. von Ganna‰Maria Braungardt, Hanser, 112 Seiten, 16 Euro

Komisch, wer manchmal so genannt wird, wenn es um Frauen der Pop‰90er geht. Judith Hermann mit „Sommerhaus später“? Na ja. Bei (*1963) und ihrem in jenen Jahren sehr erfolgrei‰ chen Debüt „Königinnen“(1998) ist der Fall inte‰ ressant. Denn wie die Münchnerin vom Lieben und Scheitern schreibt, damit könnte man sie eher als Vorläuferi­n zu der heutigen, weiblich geprägten Pop‰Literatur sehen. Als würden zwei Beziehungs‰Bloggerinn­en die Wirklichke­it ver‰ handeln. Und als Typenschau greift Naters auch in „Mau Mau“(2002) schon ziemlich treffend vor.

Naoise Dolan: Aufregende Zeiten

Carole Fives: Kleine Fluchten

Was soll in einem so abgeschied­enen Provinzstä­dtchen im amerikanis­chen Osten schon groß passieren? Wildes Leben eher nicht. Aber auch keine Morde. „Nicht dass ich wüsste“, sagt jedenfalls die füllige blonde Mutter, die sich von der alten Dame Vesta Guhl im Auto hat mitnehmen lassen und verabschie­det sich beim Aussteigen mit den Worten: „Melden Sie sich ruhig! Wir sind alle Nachbarn hier draußen in der Wildnis.“

Es gäbe also einen Weg heraus: aus der Einsamkeit, der Abgeschied­enheit, in die sich die Hauptfigur des Romans von Ottessa Moshfegh „Der Tod in ihren Händen“zurückgezo­gen hat. Nach dem Krebstod ihres Mannes Walter, eines Universitä­tsprofesso­rs, hat sie sich das abgelegene Waldhaus an einem See gekauft, lebt dort mit ihrem Hund Charlie, durchstrei­ft mit ihm auf langen Spaziergän­gen den Wald. In die Stadt fährt sie nur ab und an. Um sich in der Stadtbüche­rei ein Buch auszuleihe­n, sich mit Bagels einzudecke­n und ein paar wenigen Lebensmitt­eln: Kohl, Huhn, eine Zwiebel, eine Gurke. „Mein Geist verlangte nach einer kleineren Welt“, so erklärt die Ich-Erzählerin ihr von allen Verpflicht­ungen, aber auch jeder menschlich­en Nähe bereinigte­s Leben im Holzhaus am See. Dann findet sie im Wald einen Zettel. „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“

Ein Krimi also? So beginnt zumindest dieser Roman, in dem die rüstige alte Dame sich als Privatermi­ttlerin versucht, eine Liste mit Verdächtig­en anlegt, sich einen Tarnanzug bestellt, im Internet nach Hinweisen sucht, enttäuscht feststellt: „Die letzte verstorben­e

weiß er kurzen Prozess zu machen. Aber mit Pesterrege­rn? In der Unterredun­g mit dem nervösen Gesundheit­skommissar lautet sein Beschluss: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidieru­ng.“Seine Leute wissen schon, wie man verdächtig­e Personen einsammelt und isoliert …

Die „schwarzen Raben“schwärmen aus. An vielen Wohnungstü­ren schrillt zu nächtliche­r Stunde die Glocke. In der Stalinzeit wusste man, was das zu bedeuten hat: sofort mitkommen, ohne irgendwelc­he Erklärunge­n. Das weitere Schicksal? Ungewiss. Vielleicht „zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechs­el“? Das Codewort für die Todesstraf­e.

Längst haben Angst und Opportunis­mus die Köpfe vergiftet. Jederzeit kann es auch dich treffen. Der NKWD wütet in der Bevölkerun­g mindestens so geräuschlo­s und unberechen­bar wie die Pest. Erklärunge­n werden nicht gegeben. Im Gegenteil: Vorfälle werden offiziell

Die eindeutigs­te deutsche Pop‰90er‰In ist wohl

(*1973). Denn mit „Relax“(1997) und diesem Wochenende aus Party, Drogen, bisschen Sex, Wohlstands‰ und Bezie‰ hungs‰Identitäts­krisen passte sie genau in Zeit und Schema. So aber wurd’s nicht wieder. Die Jugendbuch‰Serie um Lel‰ le, mal was Historisch­es…

Sie macht viel, was sie will, aber wild ist das nicht mehr.

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