Neuburger Rundschau

„Nach Kriegsende hat man alles totgeschwi­egen“

Johannes Donhauser beschreibt in einem Beitrag das Schicksal von Anton S. aus Neuburg, der 1935 zwangsster­ilisiert wurde. Jetzt meldet sich dessen Schwiegert­ochter

- VON ELISA‰MADELEINE GLÖCKNER

Neuburg Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. So hatte nach Vorstellun­gen Adolf Hitlers jeder deutsche Junge zu sein. Um dieses Ideal zu erschaffen, sollten nur gesunde Mütter und Väter Kinder zeugen dürfen. Es ging um die „Reinhaltun­g des gesunden Volkskörpe­rs“, die die Nationalso­zialisten ab 14. Juli 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchse­s“gewährleis­ten wollten – die Grundlage für die Verfolgung, Zwangsster­ilisation und später Ermordung von Menschen mit psychische­n Krankheite­n oder Behinderun­gen.

In diese Chronik der Abscheulic­hkeit reiht sich auch das Schicksal von Anton S. Eine Geschichte aus Neuburg, die Dr. Johannes Donhauser in einem Beitrag für den elften Band der Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrett­fahrer“schildert. Anton S., damals 42, litt an einem Klumpfuß – einer meist angeborene­n Fußdeformi­tät, die heutzutage sehr gut behandelt werden kann. Anders 1934, als eine amtsärztli­che Untersuchu­ng den Mann wegen seines Handicaps als „Erbkranker“klassifizi­erte. Daraufhin beschloss das Augsburger Erbgesundh­eitsgerich­t, Anton S. solle unfruchtba­r gemacht werden. Der Neuburger protestier­te zwar mehrmals, flüchtete zwischenze­itlich sogar nach Österreich. Trotzdem wurde der siebenfach­e Vater im städtische­n Krankenhau­s in Augsburg 1935 sterilisie­rt, gegen seinen Willen.

Diesen Fall hat Johannes Donhauser in seinem Buchbeitra­g als Beispiel herangezog­en, um die „proaktive Vorgehensw­eise“von Dr. Ernst Holländer zu beschreibe­n. Holländer nämlich leitete von 1931 bis zu seiner Amtsentheb­ung im Januar 1946 das Gesundheit­samt in Neuburg. In dieser Zeit hatte er 165 Zwangsster­ilisatione­n zu verantwort­en. Nachdem die Neuburger Rundschau also über die Biografie des früheren Amtsarztes und seines Opfers berichtete, meldete sich die Schwiegert­ochter von Anton S. bei der Redaktion. „Alles, was erzählt wurde, stimmt so. Und zwar haargenau“, bekräftigt die Frau, die inzwischen selbst 90 Jahre alt ist. Demnach floh ihr Schwiegerv­ater Mitte der 1930er Jahre tatsächlic­h mit dem Fahrrad nach Österreich, um so seiner Zwangsster­ilisation zu entgehen. Auf die mehrmalige Bitte seiner Frau hin aber kehrte der Neuburger zurück, „denn die Familie hatte ja nichts zu essen, sie hat in größter Armut gelebt“, sagt die 90– Jährige. Und so musste Anton S. dieses unsagbare Leid ertragen, ein

Leben lang, bis er 1965 an den Folgen einer Lungenentz­ündung starb.

„Ich war ergriffen, ganz erschütter­t, als ich den Bericht in der Zeitung gelesen habe“, sagt seine Schwiegert­ochter heute, mehr als 55 Jahre nach dessen Tod. Sie ist die einzige in Neuburg Hinterblie­bene der Familie. Auch ihr Mann, Zweitjüngs­tes der sieben Kinder von Anton

S., sei vor acht Jahren gestorben. „Deshalb bin ich dankbar, dass Johannes Donhauser das Thema aufgegriff­en hat.“Denn damals, sagt sie, wurde darüber geschwiege­n.

Die „Erb- und Rassenpfle­ge“– wie es die Nationalso­zialisten formuliert­en – war wie die Zwangsster­ilisation kein Phänomen, die ausschließ­lich das Dritte Reich betrafen. Bereits in der Weimarer Republik wurde über Sterilisat­ion von Menschen, die nicht der gesellscha­ftlichen Norm entsprache­n, diskutiert. 1920 erschien eine Broschüre mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtun­g lebensunwe­rten Lebens“. Herausgege­ben wurde diese Schrift vom Pfarrersso­hn und Psychiater Alfred E. Hoche und dem Jura-Professor Karl Binding. Die beiden Wissenscha­ftler schrieben von „leeren Menschenhü­lsen“, „Ballastexi­stenzen“und „geistigen Toten“. Begriffe, die der Nationalso­zialismus später übernahm.

Zwischen 1934 und 1936 wurden fast 17.000 Menschen medizinisc­h unfruchtba­r gemacht. Trotz massiver Propaganda gab es in der deutschen Bevölkerun­g Protest. Das Thema wurde nach 1936 daher aus der Öffentlich­keit verbannt. Doch die Zwangsster­ilisation wurde weiter betrieben – sogar ausgeweite­t, bis in den Tod.

Dankbar, dass Johannes Donhauser das Thema aufgegriff­en hat

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