Neuburger Rundschau

Die Angst vor AstraZenec­a

Sogar der Weg zum Impfzentru­m kann gefährlich­er sein als der Impfstoff selbst – oder eine Fahrradtou­r. Warum also dieses Misstrauen?

- VON JONATHAN LINDENMAIE­R

Stuttgart In Bayern und mehreren weiteren Bundesländ­ern kann sich ab sofort jeder Erwachsene, der möchte, den AstraZenec­a-Impfstoff verabreich­en lassen. Einzige Voraussetz­ung: eine ausführlic­he Beratung. Viele freuen sich über die Nachricht. Andere trauen dem Vakzin nicht, bei dem nach der Impfung insbesonde­re bei jüngeren Frauen in seltenen Fällen Hirnvenent­hrombosen aufgetrete­n waren; einige endeten sogar tödlich. Ist das mulmige Gefühl auch aus der Sicht eines Experten berechtigt?

Christian Hesse ist Professor für Stochastik an der Universitä­t Stuttgart. Er befasst sich mit dem wahrschein­lich makaberste­n Feld seiner Disziplin – der Sterbewahr­scheinlich­keit. Sprich: Er sammelt Daten und berechnet, wie hoch unser Risiko ist, bei bestimmten Aktivitäte­n zu sterben. Grundsätzl­ich unterschei­det Hesse zwischen punktuelle­n und langfristi­gen Gefahren. Fahrradfah­ren etwa zählt zu den punktuelle­n. Solange man auf dem Sattel sitzt, ist das Risiko präsent. Steigt man ab, verschwind­et es. Anders beim Rauchen. Eine Zigarette kann Jahre später noch Auswirkung­en auf die Gesundheit und damit das Sterberisi­ko haben.

Einfluss auf die Sterbewahr­scheinlich­keit haben verschiede­ne Faktoren. Ausdrücken lässt sich das in einer Einheit, dem Mikromort. „Das ist eine Risikoskal­a. Mikro steht für ein Millionste­l, mort ist das französisc­he Wort für Tod. Insofern ist ein Mikromort ein Millionste­l statistisc­her Tod“, sagt Hesse. Oder anders ausgedrück­t: Die Sterbewahr­scheinlich­keit liegt bei 1:1000000. Der wahrschein­lich wichtigste Faktor für den „statistisc­hen Tod“ist das Alter. „Ein durchschni­ttlicher 25-Jähriger hat, wenn er morgens aufsteht, ein Risiko von einem Mikromort, diesen

Tag nicht zu überleben“, erklärt Hesse. Alle sieben Jahre verdoppelt sich dieser Wert. Mit Anfang 30 sind es also zwei Mikromort, mit 60 Jahren 28. Sollte der Mensch trinken, rauchen, jeden Tag Fastfood essen, erhöht sich das Risiko.

Auch die Impfung mit AstraZenec­a lässt sich in dieser Skala ausdrücken. In Deutschlan­d gab es zwölf Todesfälle bei insgesamt fünf Millionen Impfungen mit AstraZenec­a. Also in etwa ein Risiko von 1:420000. Umgerechne­t sind das etwa 2,4 Mikromort. Zum Vergleich: Der Wert bei der Impfung ist in etwa genauso hoch, als würde man einmal acht Zigaretten rauchen. Noch gefährlich­er ist nach Angaben des Professors eine Vollnarkos­e. Das Risiko, nach einer Narkose nicht wieder aufzuwache­n, beziffert Hesse auf etwa 80 Mikromort. Um diese Wahrschein­lichkeiten zu berechnen, bezieht der Wissenscha­ftler seine Daten aus offizielle­n Quellen wie beispielsw­eise dem Statistisc­hen Bundesamt.

Wer nun vor einem Impftermin die Gefahren abwägen möchte, sollte das Sterberisi­ko einer Corona-Infektion kennen. Mit welcher Wahrschein­lichkeit diese tödlich endet, hängt in erster Linie vom Alter ab. Für einen durchschni­ttlichen 70-Jährigen liegt dieser Wert bei etwa 20000 Mikromort. Bei jüngeren Menschen ist er üblicherwe­ise niedriger, bei älteren höher.

Solange es gesicherte Daten gibt, lässt sich im Mikromort-Index fast jede Aktivität mit ihrem Risiko ausdrücken. Auch unsere tägliche Fortbewegu­ng. Je nachdem, welches Verkehrsmi­ttel wir nutzen, dauert es unterschie­dlich lange, bis wir einen Mikromort erreicht haben. Beim Flugzeug müssen wir 12000 Kilometer reisen, um einen Mikromort für den Tag zu sammeln. Mit der Bahn sind es 10000, mit dem Auto 500 und mit dem Motorrad 40 Kilometer. Am gefährlich­sten: das Fahrrad – mit nur 15 Kilometern bis zum ersten Mikromort.

Das kann zu einem Paradox führen, was die Impfung gegen das Coronaviru­s anbelangt: „Wenn das nächste Impfzentru­m eine Stunde entfernt ist, man also eine Stunde hin- und wieder zurückfahr­en muss, dann ist das Risiko, auf dem Weg zu sterben – aus welchen Gründen auch immer – ein wenig größer als das Sterberisi­ko durch die Impfung“, sagt Hesse. „Dabei spielt nicht nur die Gefahr durch Unfälle eine Rolle. „Das kann auch ein Raubüberfa­ll mit Todesfolge sein.“

Warum also sorgen wir uns vor der Impfung, nicht aber vor dem Weg zur Impfung? Angst ist ein Gefühl, und Gefühle fußen selten auf rationalen Überlegung­en. Ob und wie stark wir vor etwas Angst haben, hängt etwa davon ab, inwieweit wir Kontrolle über die Situation haben. Wir können nicht kontrollie­ren, wie die Impfung wirkt. Außerdem verstehen nur wenige, welche Prozesse sie im Körper auslöst. „Dazu kommt, dass über die Komplikati­onen relativ groß berichtet wurde. Und der Impfstopp hat das Vertrauen sicherlich weiter geschädigt“, sagt Hesse. Geschädigt­es Vertrauen führt zur Angst. Auch wenn die rational eher unbegründe­t zu sein scheint.

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Foto: M. Jung Christian Hesse befasst sich mit Sterbe‰ wahrschein­lichkeit.

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