Die Angst vor AstraZeneca
Sogar der Weg zum Impfzentrum kann gefährlicher sein als der Impfstoff selbst – oder eine Fahrradtour. Warum also dieses Misstrauen?
Stuttgart In Bayern und mehreren weiteren Bundesländern kann sich ab sofort jeder Erwachsene, der möchte, den AstraZeneca-Impfstoff verabreichen lassen. Einzige Voraussetzung: eine ausführliche Beratung. Viele freuen sich über die Nachricht. Andere trauen dem Vakzin nicht, bei dem nach der Impfung insbesondere bei jüngeren Frauen in seltenen Fällen Hirnvenenthrombosen aufgetreten waren; einige endeten sogar tödlich. Ist das mulmige Gefühl auch aus der Sicht eines Experten berechtigt?
Christian Hesse ist Professor für Stochastik an der Universität Stuttgart. Er befasst sich mit dem wahrscheinlich makabersten Feld seiner Disziplin – der Sterbewahrscheinlichkeit. Sprich: Er sammelt Daten und berechnet, wie hoch unser Risiko ist, bei bestimmten Aktivitäten zu sterben. Grundsätzlich unterscheidet Hesse zwischen punktuellen und langfristigen Gefahren. Fahrradfahren etwa zählt zu den punktuellen. Solange man auf dem Sattel sitzt, ist das Risiko präsent. Steigt man ab, verschwindet es. Anders beim Rauchen. Eine Zigarette kann Jahre später noch Auswirkungen auf die Gesundheit und damit das Sterberisiko haben.
Einfluss auf die Sterbewahrscheinlichkeit haben verschiedene Faktoren. Ausdrücken lässt sich das in einer Einheit, dem Mikromort. „Das ist eine Risikoskala. Mikro steht für ein Millionstel, mort ist das französische Wort für Tod. Insofern ist ein Mikromort ein Millionstel statistischer Tod“, sagt Hesse. Oder anders ausgedrückt: Die Sterbewahrscheinlichkeit liegt bei 1:1000000. Der wahrscheinlich wichtigste Faktor für den „statistischen Tod“ist das Alter. „Ein durchschnittlicher 25-Jähriger hat, wenn er morgens aufsteht, ein Risiko von einem Mikromort, diesen
Tag nicht zu überleben“, erklärt Hesse. Alle sieben Jahre verdoppelt sich dieser Wert. Mit Anfang 30 sind es also zwei Mikromort, mit 60 Jahren 28. Sollte der Mensch trinken, rauchen, jeden Tag Fastfood essen, erhöht sich das Risiko.
Auch die Impfung mit AstraZeneca lässt sich in dieser Skala ausdrücken. In Deutschland gab es zwölf Todesfälle bei insgesamt fünf Millionen Impfungen mit AstraZeneca. Also in etwa ein Risiko von 1:420000. Umgerechnet sind das etwa 2,4 Mikromort. Zum Vergleich: Der Wert bei der Impfung ist in etwa genauso hoch, als würde man einmal acht Zigaretten rauchen. Noch gefährlicher ist nach Angaben des Professors eine Vollnarkose. Das Risiko, nach einer Narkose nicht wieder aufzuwachen, beziffert Hesse auf etwa 80 Mikromort. Um diese Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, bezieht der Wissenschaftler seine Daten aus offiziellen Quellen wie beispielsweise dem Statistischen Bundesamt.
Wer nun vor einem Impftermin die Gefahren abwägen möchte, sollte das Sterberisiko einer Corona-Infektion kennen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit diese tödlich endet, hängt in erster Linie vom Alter ab. Für einen durchschnittlichen 70-Jährigen liegt dieser Wert bei etwa 20000 Mikromort. Bei jüngeren Menschen ist er üblicherweise niedriger, bei älteren höher.
Solange es gesicherte Daten gibt, lässt sich im Mikromort-Index fast jede Aktivität mit ihrem Risiko ausdrücken. Auch unsere tägliche Fortbewegung. Je nachdem, welches Verkehrsmittel wir nutzen, dauert es unterschiedlich lange, bis wir einen Mikromort erreicht haben. Beim Flugzeug müssen wir 12000 Kilometer reisen, um einen Mikromort für den Tag zu sammeln. Mit der Bahn sind es 10000, mit dem Auto 500 und mit dem Motorrad 40 Kilometer. Am gefährlichsten: das Fahrrad – mit nur 15 Kilometern bis zum ersten Mikromort.
Das kann zu einem Paradox führen, was die Impfung gegen das Coronavirus anbelangt: „Wenn das nächste Impfzentrum eine Stunde entfernt ist, man also eine Stunde hin- und wieder zurückfahren muss, dann ist das Risiko, auf dem Weg zu sterben – aus welchen Gründen auch immer – ein wenig größer als das Sterberisiko durch die Impfung“, sagt Hesse. „Dabei spielt nicht nur die Gefahr durch Unfälle eine Rolle. „Das kann auch ein Raubüberfall mit Todesfolge sein.“
Warum also sorgen wir uns vor der Impfung, nicht aber vor dem Weg zur Impfung? Angst ist ein Gefühl, und Gefühle fußen selten auf rationalen Überlegungen. Ob und wie stark wir vor etwas Angst haben, hängt etwa davon ab, inwieweit wir Kontrolle über die Situation haben. Wir können nicht kontrollieren, wie die Impfung wirkt. Außerdem verstehen nur wenige, welche Prozesse sie im Körper auslöst. „Dazu kommt, dass über die Komplikationen relativ groß berichtet wurde. Und der Impfstopp hat das Vertrauen sicherlich weiter geschädigt“, sagt Hesse. Geschädigtes Vertrauen führt zur Angst. Auch wenn die rational eher unbegründet zu sein scheint.