Neuburger Rundschau

„Man kann das alles nicht so einfach abschüttel­n“

Tim Wohlgemuth wird sein drittes und zugleich letztes Jahr beim ERC Ingolstadt sicherlich nicht vergessen. Der Stürmer avancierte in der DEL-Hauptrunde zum punktbeste­n U23-Spieler – trotz eines schweren „Rucksacks“

- VON DIRK SING

Ingolstadt Sein Abgang trifft den ERC Ingolstadt sowohl spielerisc­h als auch menschlich überaus hart: In den vergangene­n Jahren hat sich Stürmer Tim Wohlgemuth vom Talent zum unverzicht­baren Leistungst­räger und Nationalsp­ieler entwickelt. Dies blieb freilich auch der deutlich zahlungskr­äftigeren Konkurrenz aus Mannheim nicht verborgen, die sich die Dienste des begehrten 21-Jährigen ab der Saison 2021/2022 sicherte.

Herr Wohlgemuth, nachdem Sie nun zwei Nächte über das Halbfinal-Aus gegen Berlin geschlafen haben: Wie würden Sie Ihren aktuellen Gemütszust­and beschreibe­n?

Wohlgemuth: Ich würde sagen, dass sich das Ganze mittlerwei­le zumindest etwas gelegt hat. Direkt nach dem Ausscheide­n ist es ja nicht nur ein einziges Gefühl, das einen beherrscht. Da steigen Enttäuschu­ng, Frustratio­n oder auch die Wut auf sich selbst, dass man es nicht besser gemacht hat, in einem auf. Wenn man dann etwas darüber geschlafen hat, ist es zumeist nicht mehr ganz so schlimm – auch wenn natürlich die Unzufriede­nheit, dass man eine Serie verloren hat, die man auch hätte gewinnen können, weiterhin da ist. Als Sportler kann und muss man das jedoch auch profession­ell sehen und wieder nach vorne blicken.

Können Sie mit etwas Abstand mittlerwei­le sagen, was letztlich den Ausschlag

in dieser Halbfinal-Serie zugunsten der Berliner gegeben hat? Wohlgemuth: Ich denke schon, dass sich die Eisbären den Finaleinzu­g auch verdient haben und es nicht zu 100 Prozent an uns selbst lag. Man muss zugeben, dass uns die Berliner in Teilen dieser Serie dominiert haben. Insgesamt ist es in einer solch kurzen Serie immer schwer, die genauen Gründe für einen Sieg oder eine Niederlage festzumach­en. Ich würde schon sagen, dass wir eine ordentlich­e Serie gespielt haben, die mit etwas mehr Glück auch in unsere Richtung hätte gehen können. Daher könnte ich jetzt auch nicht einen oder zwei Punkte nennen, in denen wir als Team versagt haben.

Sie selbst haben beim dritten Play-offHalbfin­alspiel in Berlin Ihr letztes Match für den ERC Ingolstadt absolviert. Ist Ihnen diese Tatsache direkt nach Spielschlu­ss durch den Kopf gegangen oder war das bei all der Enttäuschu­ng kein Thema? Wohlgemuth: Das war in der Tat das Erste, was mir nach der Schlusssir­ene intensiv durch den Kopf gegangen ist. Ich habe mir gedacht: Wow, drei Jahre beim ERC Ingolstadt sind jetzt vorbei – zumal das ja gerade im Profisport doch eine ziemlich lange Zeit ist. Man versucht dann in diesem Augenblick, auf diese drei Jahre zurückzusc­hauen und merkt plötzlich, dass man nun ein weiteres Kapitel in seinem Leben beziehungs­weise Karriere abgeschlos­sen hat, in dem man viel erleben und mitnehmen durfte. Das ist sicherlich nicht einfach und definitiv ein komisches Gefühl.

Wenn Sie auf die Saison 2020/2021 zurückblic­ken: Was nehmen Sie persönlich aus dieser Spielzeit mit? Wohlgemuth: Ich denke, dass ich sowohl spielerisc­h als auch menschlich nochmals einen guten Schritt nach vorne gemacht habe. Innerhalb des Teams habe ich sicherlich mehr Verantwort­ung und dementspre­chend auch eine größere Rolle eingenomme­n. Das hat mir auf alle Fälle geholfen, daran weiter zu reifen. Was ich aber auch mitnehme: Es war für mich sicher auch ein schwierige­s

Jahr. Gerade als im Februar mein Wechsel nach Mannheim bekanntwur­de, war es für mich in erster Linie eine mentale Herausford­erung, damit entspreche­nd umzugehen und alles unter einen Hut zu bekommen. Ich habe in dieser Phase gemerkt, dass man das alles nicht so einfach abschüttel­n kann, weil es einem doch sehr nahe geht.

Trotz dieses „Rucksacks“waren Sie in der Hauptrunde nicht nur teamintern der zweitbeste Scorer (37 Spiele, 12 Tore, 16 Assists), sondern auch ligaweit unter allen U23-Spielern der eifrigste Punktesamm­ler. Dabei haben Sie sogar die NHL-gedraftete­n Lukas Reichel (27 Punkte) oder JJ Peterka (20) hinter sich gelassen. Was bedeuten Ihnen diese beeindruck­enden individuel­len Statistike­n?

Wohlgemuth: Ich bin der Meinung, dass man mich jetzt nicht mit Jungs, die drei Jahre jünger und zudem deutlich talentiert­er sind als ich, vergleiche­n kann. Wenn ich sehe, wo ich leistungsm­äßig noch vor drei Jahren war und dazu im Gegensatz Lukas Reichel, JJ Peterka oder auch Tim Stützle heute sind, dann verkörpert dieses Trio für dieses Alter schon Weltklasse-Niveau. Das war bei mir damals nie und nimmer der Fall. Auch wenn es für mich natürlich ein gutes Gefühl ist, dass ich sehr ordentlich gescort habe, halte ich von diesen ligaintern­en Vergleiche­n eher wenig.

Die DEL-Saison 2020/2021 wird mit all ihren (Corona-)Facetten zweifelsoh­ne als eine der außergewöh­nlichsten Spielzeite­n in die Geschichts­bücher eingehen. Was wird speziell bei Ihnen davon hängenblei­ben?

Wohlgemuth: In erster Linie sicherlich die Tatsache, dass wir ohne Fans gespielt haben. Aber auch die ungewisse Situation im Sommer oder Herbst, als es noch unsicher war, ob überhaupt eine Saison stattfinde­t, bleibt natürlich im Gedächtnis. Was man ebenfalls nicht vergessen wird, sind die ungewöhnli­ch kurzen Playoffs, in denen innerhalb von wenigen Wochen der Meister ausgespiel­t wird – egal in welcher Liga! Wenn man sich in fünf oder sechs Jahren darüber unterhält, wer 2021 den Titel geholt hat, dann wird das sicher immer ein Thema bleiben.

Wie geht es jetzt in den nächsten Tagen bei Ihnen weiter? Bundestrai­ner Toni Söderholm wird Sie doch sicherlich hinsichtli­ch der derzeit stattfinde­nden WM-Vorbereitu­ng schon kontaktier­t haben...

Wohlgemuth: Ja, das ist richtig. Fabio Wagner und ich fahren am Dienstag nach Nürnberg, um an der sogenannte­n „Phase drei“der WM-Vorbereitu­ng teilzunehm­en. Wie lange diese genau dauert, kann ich jetzt auswendig gar nicht sagen. Natürlich hoffe ich darauf, dass ich im Anschluss meine erste Weltmeiste­rschaft mit dem deutschen A-Team spielen darf. Das wäre definitiv eine tolle Sache.

Das komplette Interview gibt es unter www.neuburger-rundschau.de/erci.

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Foto: Johannes Traub Tolle Entwicklun­g: Stürmer Tim Wohlge‰ muth.

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