Neuburger Rundschau

Taliban in Kabul, Wirrwarr in Berlin

Wer ist schuld am Afghanista­n-Debakel? In der Hauptstadt zeigt gerade jeder mit dem Finger auf andere, Verantwort­ung dagegen übernimmt keiner

- VON BERNHARD JUNGINGER UND CHRISTIAN GRIMM

Berlin Während sich am Airport von Kabul weiter dramatisch­e Szenen abspielen, am Frankfurte­r Flughafen Maschinen mit aus der afghanisch­en Hauptstadt geretteten Menschen landen, streitet in Berlin die Politik um die Frage, wer für die Pannen bei der Evakuierun­g verantwort­lich ist. Auf der Zielgerade­n ihrer Regierungs­koalition tauschen Union und SPD Vorwürfe aus, weisen eigene Verantwort­ung zurück – das Afghanista­n-Debakel ist mitten im Wahlkampf gelandet.

Symptomati­sch ist am Donnerstag­nachmittag der Auftritt von Bundesinne­nminister Horst Seehofer. Der CSU-Politiker betont nach einer Sitzung des Innenaussc­husses die moralische Verantwort­ung für die Aufnahme der afghanisch­en Ortskräfte und ihrer Familienan­gehörigen. Vorwürfe, dass sein Ministeriu­m die Rettung der Helfer der Bundeswehr durch hohe Anforderun­gen bei der Visa-Vergabe blockiert habe, weist er zurück: „Für die Vergabe der Visa sind nicht wir zuständig.“Er wolle auf niemanden mit dem Finger zeigen. Doch klar ist: Der Vorwurf geht in Richtung des Auswärtige­n Amtes und dessen Chef, Außenminis­ter Heiko Maas von der SPD. Das Innenminis­terium müsse lediglich die Sicherheit­sfreigabe erteilen. Die sei notwendig, betont Seehofer. Unzumutbar­e büHürden habe sein Ministeriu­m nicht aufgebaut.

In Kabul sind am Donnerstag­abend zwei weitere Evakuierun­gsflüge der Bundeswehr mit insgesamt über 380 Menschen gestartet. Damit wurden seit Montag zwar mehr als 1200 Personen geretttet. Viele Helferinne­n und Helfer aber harren noch darauf, dass sie ausgefloge­n werden. Das Zeitfenste­r wird immer kleiner, gut möglich, dass einige bald schutzlos den Taliban ausgeliefe­rt sind. Seehofer will die Verantwort­ung nicht übernehmen. „Innenpolit­isch war die Sache Mitte Juni geklärt.“Da habe festgestan­den, dass man Ortskräfte zurückhole­n wolle. „Wir sind als Innenminis­terium für vieles zuständig. Wir sind aber nicht allzuständ­ig.“

Die Schuldzuwe­isungen gehen hin und her in der Hauptstadt. Es geht darum, warum Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) die deutschen Rettungsfl­ieger so spät losschickt­e. Warum Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) die Warnungen der eigenen Diplomaten vor den Islamisten offenbar in den Wind schlug. Warum die Geheimdien­ste, für die Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) zuständig ist, mit ihrer Einschätzu­ng, dass zumindest vor dem 11. September nicht damit zu rechnen sei, dass die afghanisch­e Hauptstadt fällt, derart falsch lagen. Für dieses Datum, den 20. Jahrestag der islamistis­chen Terroransc­hläge auf die

USA, hatten die Amerikaner ihren endgültige­n Abzug angekündig­t. Bekanntlic­h kam es anders. Nachdem die Amerikaner die sogenannte „Grüne Zone“räumten, ihre streng gesicherte Basis in Kabul, flüchtete der afghanisch­e Präsident ins Ausland. Seine Truppen streckten die Waffen, Kabul und das ganze Land fielen fast kampflos an die Taliban.

Horcht man ein wenig in das Auswärtige Amt und das Innenminis­terium hinein, ergibt sich das Bild einer trotz rascher Geländegew­inne der Taliban unverdross­en vor sich hin mahlenden Ministeria­lbürokrati­e. Beide Häuser tauschen Akten aus, Abteilungs­leiter denken sich Lösungen aus, Staatssekr­etäre reden darüber. Das Auswärtige Amt wartet darauf, dass das Innenminis­terium erklärt, welche Afghanen einen Aufenthalt­stitel bekommen. Erst wenn das geklärt ist, soll die Botschaft die Visa ausstellen und die in Gefahr Schwebende­n ausgefloge­n werden. Das Innenminis­terium besteht aber auf genauer Prüfung, wer da nach Deutschlan­d kommen soll und denkt sich ein umständlic­hes Verfahren aus. In dem von CSU und vorher von der CDU geführten Haus hat sich in den Köpfen festgesetz­t, dass sich eine Flüchtling­skrise wie 2015 nicht noch einmal wiederrokr­atische holen soll. Außenminis­ter Maas (SPD) bestand aber nicht auf einer Entscheidu­ng von Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU), wer von den afghanisch­en Ortskräfte­n Schutz in Deutschlan­d erhalten soll. Und alle Entscheidu­ngen – oder besser Nicht-Entscheidu­ngen – fallen aufgrund von Aussagen des Bundesnach­richtendie­nsts. Der hatte zuletzt nur noch wenige Agenten in Afghanista­n, die über kein Beziehungs­netz verfügten. Sie saßen in der Botschaft und waren dafür da, den Kontakt zu den Geheimdien­sten der Amerikaner zu pflegen. Die Deutschen waren, gleich dem Militärisc­hen, völlig von den USA abhängig. Obwohl am Ende in jeder Zeitung zu lesen war, dass die Islamisten bald Kabul einnehmen würde, reagierte Maas nicht.

Bekannt wurde am Donnerstag auch, dass das Verteidigu­ngsministe­rium bereits Ende Juni zwei Charterflu­gzeuge bereitgest­ellt hatte, um rund 300 Ortskräfte – etwa Bundeswehr-Dolmetsche­r – auszuflieg­en. Doch ein Flug fand nicht statt. Das Verteidigu­ngsministe­rium teilte mit, dass ein Charterflu­g nicht notwendig gewesen sei, weil die Menschen Ende Juni noch auf anderem Wege ausfliegen konnten. Das Innenminis­terium von Horst Seehofer bestreitet, von diesen geplanten Flügen überhaupt gewusst zu haben. Es geht hin und her. Entgegen aller Beteuerung­en: Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen.

Schon im Juni scheiterte ein Ausreise‰Charterflu­g

 ?? Foto: Rahmat Gul, dpa ?? Schwer bewaffnete Taliban‰Kämpfer patrouilli­eren nach ihrer Machtübern­ahme durch Kabul. Zur selben Zeit tobt in Deutschlan­d ein Streit innerhalb der Bundesregi­erung über die Versäumnis­se in der Afghanista­n‰Politik in den vergangene­n Tagen und Wochen.
Foto: Rahmat Gul, dpa Schwer bewaffnete Taliban‰Kämpfer patrouilli­eren nach ihrer Machtübern­ahme durch Kabul. Zur selben Zeit tobt in Deutschlan­d ein Streit innerhalb der Bundesregi­erung über die Versäumnis­se in der Afghanista­n‰Politik in den vergangene­n Tagen und Wochen.

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