Striktes „Nein“zu afghanischen Flüchtlingen
Egal ob Ortskräfte, Journalistinnen oder Menschenrechtsaktivisten: Die Regierung von Sebastian Kurz weigert sich, Menschen aus dem Krisenland aufzunehmen – und steht in Europa damit fast allein da
Wien „Schockiert“sei er, sagt Karl Nehammer. Doch Österreichs ÖVP-Innenminister und Mitstreiter von Kanzler Sebastian Kurz meint damit nicht etwa das Schicksal der Menschen in Afghanistan, die nach der Machtübernahme der Taliban um ihr Leben fürchten müssen: Nehammers „Schock“wurde ausgelöst von der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die am vergangenen Wochenende gefordert hatte, „sichere Fluchtrouten“nach Europa für jene aufzumachen, die nun in Afghanistan besonders gefährdet sind, etwa Journalistinnen und Journalisten oder Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Dies sei „total das falsche Signal“, richtete Nehammer der EU-Innenkommissarin im ORF-Radio aus. Man könne jetzt „nicht alle aufnehmen“.
Es ist die bekannte Law-and-Order-Politik der Partei von Kanzler Kurz, die schon von der Diskussion um die fatalen Zustände im griechischen Flüchtlingslager Moria im vergangenen Jahr bekannt ist: Keine Aufnahme von Flüchtlingen, stattdessen „Hilfe vor Ort“, auch wenn nicht immer klar ist, wie genau diese funktionieren soll. Eine Aufnahme Afghaninnen und Afghanen werde es mit ihm nicht geben, schaltete sich schließlich Kanzler Kurz selbst in die Diskussion ein. Die Argumentation ist dabei immer dieselbe: Österreich habe in den vergangenen Jahren überproportional vielen Afghanen Asyl oder humanitären Schutz gewährt, sei nach wie vor mit besonders vielen Asylanträgen konfrontiert und die Leistung der Alpenrepublik werde in Europa einfach ignoriert. Es ist vor allem Innenminister Nehammer, der in der Afghanistan-Diskussion gerne von „Organisierter Kriminalität und Schleppern“spricht, mit denen „alle Afghanen in den vergangenen Jahren ins Land gekommen“seien, und von „straffälligen Asylwerbern“oder Asylberechtigten, die es abzuschieben gelte.
Österreichs Regierung nutzt auch diese humanitäre Krise, um eine harte Haltung zu demonstrieren, und Kanzler Kurz positioniert sich als Gegenpol zur gemeinsamen Linie der EU. Einzig: Aktuell steht Österreich mit seiner Weigerung, besonders schutzbedürftige Afghanen oder zumindest einen Teil der rund 400 ehemaligen EU-Ortskräfte aufzunehmen, europaweit fast allein da. Nur Griechenland sendet ähnliche Signale wie die Regierung in Wien. Migrationsminister Notis Mitarachi erklärte, Griechenland werde nicht erneut „das Tor für ungeregelte Flüchtlingsströme nach Europa werden“.
Spanien, das wie Deutschland oder auch Italien militärisch in Afghanistan engagiert gewesen war, versucht sich als „Drehscheibe“für Rückholaktionen von Ortskräften oder gefährdeten Personengruppen und deren Angehörigen zu etablieren. Am Wochenende wurde am Militärflughafen in Madrid ein Sammellager für Afghanen eingerichtet, Spanien und Europa würden „Tag und Nacht“arbeiten, um „so viele Menschen wie möglich in kürzester Zeit evakuieren zu können“, verkündete die spanische Regierung. Selbst Ungarn hat fast 200 Menschen aufgenommen.
Österreichs Regierung lehnt auch dann die Aufnahme von Flüchtlingen ab, wenn sie durch ein Resettlement-Abkommen der EU ins Land kommen würden. Die Kurz-Regierung will, zumindest rhetorisch, gevon nau das Gegenteil: Während Europa darüber nachdenkt, wie nach dem Totalversagen des Westens in Afghanistan möglichst viele Menschen vor den Taliban gerettet werden können, spricht die Kurz-Regierung von „Abschiebelagern“in den Nachbarregionen Afghanistans. Zuvor hatten Innenminister Nehammer und Außenminister Schallenberg gar behauptet, weiter nach Afghanistan abschieben zu wollen, obwohl dies aufgrund der Machtübernahme der Taliban faktisch unmöglich geworden war.
Der österreichische Verfassungsgerichtshof beendete vorige Woche die Abschiebehaft eines Mannes, der nach Afghanistan gebracht werden sollte: Aufgrund der Unmöglichkeit einer Abschiebung sei auch die Haft rechtswidrig, urteilte das Höchstgericht. Weniger als zehn Afghanen hatten sich bis vor kurzem noch in Abschiebehaft befunden, nun seien alle entlassen, sagt Herbert Langthaler vom Verein Asylkoordination. Er bestätigt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass Afghanen in den vergangenen Jahren zu den größten Gruppen von Asylwerbern in Österreich zählen, stuft die von Nehammer genannte Zahl von 2500 afghanischen Asylwerbern allein im laufenden Jahr aber als „durchschnittlich“ein.
„Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenzen, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden“, ließ Nehammer dazu wissen. Mit der Forderung nach „Abschiebelagern“in den Nachbarstaaten Afghanistans will die Kurz-Regierung nun de facto die EU-Menschenrechtskonvention „umgehen“– dies sorgt nicht nur bei Oppositionspolitikern für heftige Kritik. Selbst mit den Taliban über Abschiebungen zu verhandeln, schloss Nehammer nicht dezidiert aus.
Recht still verhalten sich zu all dem die Grünen, der Juniorpartner in Kurz‘ Regierung. „Kein Kommentar“hieß es noch am Wochenende, am Tag darauf sprach man in einer Aussendung von einer „europaweiten Initiative zur humanitären Aufnahme von Schutzsuchenden“. Und: „Wer die Menschenrechtskonvention infrage stellt, stellt die Grundfesten unseres Europas infrage.“Konsequenzen daraus zog Birgit Hebein: Die ehemalige Wiener Vizebürgermeisterin und Wiener Parteichefin der Grünen trat aus der Partei aus.
Selbst Ungarn hat Afghanen aufgenommen