Zwischen Strapazen und Emotionen
Severin Birkelbach hat in 74 Tagen den 2965 Kilometer langen Jakobsweg zurückgelegt. Welche Erfahrungen der Trainer des BSV Neuburg dabei gemacht hat
Neuburg Es sind bestimmte Ereignisse oder (unvergessliche) Erlebnisse, die nicht nur die Sichtweise eines Menschen auf bestimmte Dinge signifikant verändern. Nicht selten nehmen dadurch auch die Lebenseinstellung sowie der Blick auf den täglichen Alltag eine ganz neue, oftmals sogar unerwartete und überraschende Wendung.
Auch im Leben von Severin Birkelbach hat sich in den zurückliegenden knapp drei Monaten einiges verändert. Nach 74 Tagen, in denen er auf dem Jakobsweg exakt 2965 Kilometer über Asphalt- und Schotterwege, durch Täler und Berge, bei Hitze und sintflutartigen Regenfällen auf seinen Füßen zurückgelegt hat, sagt der 34-Jährige: „Diese Erfahrung hat mich definitiv verändert. Mittlerweile sehe ich vieles mit ganz anderen Augen und schätze auf einmal Dinge, die für mich selbstverständlich waren.“Würde er dennoch die ganzen Strapazen wie Rückenschmerzen, aufgeschlagene Knie, entzündete Ellenbogen oder unzählige entzündete Blasen an den Füßen nochmals in Kauf nehmen? Birkelbach antwortet ohne zu zögern: „Sofort und jederzeit!“.
Bis der Unterstaller seinen einst „tollkühnen Plan“, eines Tages den Jakobsweg zu bestreiten, wahrhaftig in die Tat umsetzte, verging jedoch mehr als ein Jahrzehnt. „Zum ersten Mal kam mir diese Idee, als ich 20 Jahre alt war. Ich wollte einfach etwas machen, was nicht jeder tut. Seitdem hatte ich das Ganze ständig im Hinterkopf“, berichtet Birkelbach. Doch wie bei so vielen Plänen bestand auch bei diesem zwischen der ursprünglichen Idee und ihrer Durchführung zunächst eine deutliche Diskrepanz. „Wenn es dann wirklich ans Eingemachte geht, findet man in der Regel sehr schnell eine geeignete Ausrede. In meinem Fall waren es der Fußball, meine Freundin oder Freunde.“
Der endgültige Entschluss, sein langjähriges Vorhaben nun endlich in die Tat umzusetzen, sei schließlich am 2. Januar 2020 gefallen. „An diesem Tag habe ich eine 40-Kilometer-Wanderung durch das Donaumoos unternommen. Dabei habe ich für mich die Entscheidung getroffen, dass es jetzt an der Zeit ist, dieses Unternehmen anzugehen“, so Birkelbach, der daraufhin prompt in die konkreten Planungen einstieg. Nachdem 2021 das „Heilige Kirchenjahr“ist (der Jakobstag war am 25. Mai), sei für ihn „relativ schnell“klar gewesen, „dass ich den Jakobsweg in eben diesem Jahr begehen möchte“. Neben der Erlaubnis seines Arbeitgebers, den dafür benötigten Urlaub ansparen zu können, setzte er sich in den darauffolgenden Monaten vor allem mit dem Thema Ausrüstung auseinander. Die „ultimative Generalprobe“folgte schließlich im August 2020, als Birkelbach mit kompletter Montur drei aufeinanderfolgende TagesWanderungen um den Chiemsee (64 Kilometer), Tegernsee (39) und Königssee (50) unternahm. „Ich habe bereits unmittelbar danach gesagt, dass das der bislang schönste Urlaub in meinem Leben war. Diese Erfahrung hat mich in Sachen Jakobsweg nur noch mehr bestärkt.“
Der „große Tag“sollte schließlich am 17. Mai 2021 folgen: Mit 16 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken (Birkelbach: „ Im Nachhinein habe ich sicherlich zu viel mitgenommen.“) verließ er sein Elternhaus in Unterstall und marschierte in Richtung Bergen, wo der Eintritt in den (oberbayerischen) Jakobsweg erfolgte. „Man kann im Vorfeld sicherlich alles so gut wie möglich planen. Was dann aber tatsächlich auf einen zukommt, davon hat man schlichtweg keine Ahnung“, sagt Birkelbach. Über Bergen, Rennertshofen, Donauwörth, Augsburg, Bad Wörishofen und Weiler (Allgäu) ging es weiter über die Grenzen nach Österreich und in die Schweiz. Dabei standen täglich durchschnittlich 40 Kilometer Fußmarsch (die insgesamt kürzeste Ta
war 18 Kilometer, die längste 55) auf dem Programm. Genächtigt wurde entweder im eigenen Zelt, Herbergen oder – wie zum ersten Mal in der Schweiz – in eigenen Pilger-Unterkünften, in denen es für einen zumeist geringen Unkostenbeitrag ein Bett, Frühstück und Abendessen sowie eine warme Dusche gab.
Im „Land der Eidgenossen“erlebte Birkelbach nach rund zweiwöchiger Wegstrecke im Übrigen auch seinen ersten und zugleich einzigen mentalen Tiefpunkt. „Ich war in diesem Augenblick psychisch richtig kaputt und habe mir rund eineinhalb Stunden überlegt, warum ich diese ganzen Strapazen eigentlich auf mich nehme“, erinnert sich der Trainer des Fußball-Kreisklassisten BSV Neuburg. „Doch letztlich war mein Ehrgeiz einfach zu groß, um die Brocken hinzuschmeißen und nach Hause zu fahren.“Spätestens beim herrlichen Ausblick auf den Genfer See sei dann die Erkenntnis gewachsen, „dass ich schon so weit gekommen bin und es jetzt auch bis zum Schluss schaffen werde“.
Was Birkelbach zudem in seiner Entscheidung, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, bestärkte: Er befand sich bereits in seiner „neuen“Welt! „Der Jakobsweg gibt dir schlichtweg eine neue ungewohnte
Freiheit. Du bist weit entfernt von den täglichen Zwängen und dem Terminstress des Alltags. Zudem nimmst du auf deinem Weg plötzlich Dinge wahr, die im ’normalen’ Leben eine Selbstverständlichkeit sind, und erfreust dich daran“, berichtet Birkelbach.
Über die Zwischenstation Frankreich, wo ihn unter anderem ein 105 Kilometer langer und mit 9000 Höhenmetern gespickter Abschnitt von St. Jean Piet de Port nach Irun über die Pyrenäen führte, ging es abschließend in das Land, dessen Menschen Birkelbach als „unglaublich freundlich und herzlich“beschreibt: Spanien! „Gerade als Pilger wirst du dort regelrecht umsorgt. Da kommt es nicht selten vor, dass dich wildfremde Menschen zu sich nach Hause zu Kaffee und Kuchen oder zum Essen einladen. Das hat mich wirklich ungemein beeindruckt.“Und so ganz nebenbei war es freilich auch eine willkommene Abwechslung zur täglichen Essensroutine. Nachdem das „Mittagessen“nicht selten aus zwei Tafeln Schokolade, einem Päckchen Gummibären und einer Flasche Cola bestand (Birkelbach: „Einerseits musste ich meinen Zucker-Haushalt im Körper angesichts der hohen Belastungen steuern. Andererseits hätte ich nach einem ausgiebigen Mitgesetappe tagessen wohl kaum die Lust gehabt, weiterzugehen.“), wurde es zumindest am Abend etwas deftiger, um sich die Energie für den nächsten anstrengenden Tag zu holen.
Einen seiner emotionalsten Momente erlebte er schließlich an dem Ort, der gemeinhin als Endpunkt des Jakobswegs gilt: Santiago de Compostela. In der dortigen Kathedrale sollen die sterblichen Überreste des biblischen Apostels Jakobus liegen. „Wenn man auf die Kathedrale zuläuft, wird man von unzähligen Menschen, die sich dort auf dem Vorplatz befinden, mit Applaus und Umarmungen begrüßt. Das ist Gänsehaut pur“, berichtet Birkelbach, für den sein Vorhaben damit allerdings noch nicht ganz beendet war. Nachdem er dort seine traditionelle „Compostellae“(Urkunde) in Empfang genommen und sich etwas ausgeruht hatte, folgte noch der 120 Kilometer entfernte „Abstecher“zum Cap Finisterre – dem sogenannten „Nullpunkt des Jakobswegs“, an dem der Apostel Jakobus ins Meer gegangen sein soll.
Für Severin Birkelbach war dies zugleich das Ende einer 74-tägigen Reise, in der er nicht nur insgesamt zwölf Kilogramm Körpergewicht verloren, sondern vielmehr neue und unbezahlbare Dinge gewonnen hatte. „Diese unglaubliche Erfahrung hat mich als Mensch definitiv verändert und stärker gemacht. Im Grunde habe ich in diesen rund elf Wochen ein neues und besseres Gedanken-Update erhalten“, so Birkelbach, der bereits nach vorne blickt: „Bereits zwei Wochen nach meiner Rückkehr habe ich gesagt, dass ich sofort wieder loslaufen könnte – gerade auch mit meinen Erfahrungswerten, wie ein solcher Weg zu gehen ist. Da ich nochmals ein solches Gefühl wie in Santiago de Compostela erleben möchte, werde ich das in absehbarer Zeit mit Sicherheit auch tun.“