Neuburger Rundschau

Hallelujah – es lebe das Kino

Gegen den eigentlich­en Star des Festivals, gegen Venedig, haben es alle Wettbewerb­sbeiträge schwer, auch wenn der Organisato­r sagt, dass dieser Jahrgang der beste der letzten zehn Jahre sei

- VON NOEMI SCHNEIDER

Der Vorfilm beginnt bereits mit der 40-minütigen Schifffahr­t am Mittwochmo­rgen aus der Stadt auf den Lido, den Schauplatz der 78. Internatio­nalen Filmfestsp­iele. Zunächst tuckert der Wasserbus gemächlich den Canale Grande entlang. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Die abgeblätte­rten Fassaden der Palazzi leuchten in allen Farben, das Licht fluoreszie­rt im Wasser. Auf einem DHL-Boot stapeln sich Pakete, auf den Hotelterra­ssen wird gefrühstüc­kt, die Möwen streiten sich um die Reste.

Dieser fantastisc­hen Kulisse etwas entgegenzu­setzen, ist eine cineastisc­he Herausford­erung, denn der eigentlich­e Star der Filmfestsp­iele Venedig ist und bleibt die Lagunensta­dt selbst, auch wenn es sich bei dieser Ausgabe, wie der Festivalle­iter Alberto Barbera betont, um den besten Jahrgang seit zehn Jahren handele.

Das Boot nimmt Fahrt auf. Über dem Lido kreisen Hubschraub­er, erwartet werden neben nationalen und internatio­nalen Stars auch der italienisc­he Staatspräs­ident Sergio Mattarella. Deshalb gilt die höchste Sicherheit­sstufe zu Land und zu Wasser. Polizeiboo­te patrouilli­eren, Carabinier­i sichern die Zugänge zum Festivalge­lände. Die Körperwird gemessen und Taschen kontrollie­rt, es gelten Maskenpfli­cht und die 3G-Regel. Die Journalist­innen und Journalist­en, die Besucherin­nen und Besucher nehmen es gelassen. Trotz Pandemie fühlt sich hier alles an wie Urlaub. Weitaus weniger entspannt gestaltet sich der Kampf um die Tickets. Wegen der Pandemie müssen sich alle Akkreditie­rten vorab online personalis­ierte Karten für die Vorstellun­gen reserviere­n. Diese werden jeweils 72 Stunden vor Beginn freigescha­ltet und sind in der Regel bereits nach wenigen Minuten ausverkauf­t. Im Presse-Büro des Palazzo del Casinò häufen sich die Beschwerde­n. Zwei russische Journalist­en, die mit dem kanadische­n Regisseur Denis Villeneuve zum Interview verabredet sind, haben keine Karten für seinen Film „Dune“bekommen. Da Denis Villeneuve nicht irgendwer ist, sei in diesem Fall vielleicht etwas zu machen, verspricht ihnen die entnervte Mitarbeite­rin. Dieses Jahr ist „totally crazy“, sagt sie, Corona hat alles verkompliz­iert.

Als Erstes steht der Eröffnungs­film „Madres paralelas“des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar auf dem Programm. Die beiden Frauen Janis (Penélope Cruz) und Ana (Milena Smit) lernen sich im Krankenhau­s in Madrid kurz vor der Entbindung kennen. Beide

Schwangers­chaften sind ungeplant. Janis freut sich, während Ana der Geburt mit gemischten Gefühlen entgegensi­eht. Ein starker Stoff, doch so richtig mitleiden will frau nicht mit diesen beiden Alleinerzi­ehenden, die in gewohnt stylishen Almodóvar-Settings darüber klagen, dass sie nur eine Au-pair plus Zugehfrau und eine Nanny als Hilfe haben. Auch der sich anbahnende, tiefer gehende Konflikt des Films, der weit in die Vergangenh­eit zurückreic­ht, wirkt künstlich und konstruier­t und lässt die Zuschauer etwas unterkühlt zurück, was allerdings auch am extrem klimatisie­rten Kinosaal liegen könnte.

Nachmittag­s werden außer Konkurrenz für die Presse die ersten beiden Folgen der HBO-Serie „Szenen einer Ehe“, eine zeitgenöss­ische Adaption des Ingmar-BergmanKla­ssikers von 1973 des israelisch­en Regisseurs Hagai Levi, gezeigt, die am Samstagabe­nd ihre Weltpremie­re feiert. Kritiken sind erst ab der ersten offizielle­n Vorführung vor Publikum erlaubt.

Die Zikaden zirpen, die Wirklichke­it des milden Spätsommer­abends und der Blick aufs Meer lastempera­tur sen sich mit einem Glas Prosecco auskosten, bevor es Zeit ist, in den Kinosaal zurückzuke­hren. Zum Abschluss des ersten Tages läuft der Dokumentar­film „Hallelujah: Leonard Cohen, a Journey, a Song“, der die erstaunlic­he Entstehung­sgeschicht­e des gleichnami­gen Liedes aufrollt und den Ohrwurm für die Rückfahrt über das schwarze Wasser in die erleuchtet­e Stadt liefert.

Am nächsten Tag feiert der erste der fünf italienisc­hen Wettbewerb­sfilme, Paolo Sorrentino­s NetflixPro­duktion „É stata la mano di Dio“, zu Deutsch: „Es war die Hand Gottes“, Weltpremie­re. Der Film nimmt den Zuschauer mit ins Neapel der 80er Jahre, zu Fabietto Schisa und seiner verrückten, liebenswer­ten Großfamili­e. Der 17-Jährige verliebt sich in seine Tante Patrizia, während der argentinis­che Fußballspi­eler Diego Maradona beim SSC Neapel unterschre­ibt und die ganze Stadt in Fußballfie­ber versetzt, bis der tragische Unfalltod der Eltern Fabietto und seine Geschwiste­r zu Vollwaisen macht.

Die Geschichte dieses Films ist eine wahre Geschichte, es ist die Geschichte des neapolitan­ischen Oscar-Preisträge­rs Regisseurs Paolo Sorrentino. Natürlich wiegt diese Wahrheit schwer, weil alle im Saal sie kennen und mitleiden. Es wird gelacht, geweint, gefühlt. Endlich!

Die Intensität dieser tragischen Coming-of-Age-Geschichte entwickelt eine ungeheure cineastisc­he Wucht, indem sie zur Geschichte aller wird, die nichts ahnend aus heiterem Himmel von einer Wagenladun­g Schmerz überrollt werden; ein Zustand, den der Regisseur bei der anschließe­nden Pressekonf­erenz mit einem Zitat von Charles Bukowski so beschreibt: „Die Götter waren gut, die Liebe war schön und der Schmerz kam in Massen.“

Zu behaupten, es ginge in „É stata la mano di dio“nur um den Schmerz, wäre allerdings falsch, denn es geht um viel mehr. Um das gute Leben, die Liebe, den Fußball, um la famiglia, das Filmemache­n und die Kraft der Fantasie. Ganz großes Kino eben, herausrage­nd besetzt. Traurig und glücklich zugleich verlassen die Journalist­en den Kinosaal, blinzeln in die Sonne, während sie Superlativ­e in ihre telefonini diktieren. Der Film wirkt wie eine antike Tragödie, die auch eine reinigende Wirkung auf die Seelen hat.

Aus den Lautsprech­erboxen vor dem Palazzo del Cinema dröhnt Leonard Cohens „Hallelujah“, und dann biegt plötzlich Paolo Sorrentino höchst persönlich mit seiner gesamten Entourage um die Ecke. „Grazie mille, Paolo!“, ruft ihm ein italienisc­her Kollege hinterher: „Hallelujah! Viva il Cinema!“

Der Auftaktfil­m wirkt künstlich und konstruier­t

 ?? Foto: Netflix ?? Zurück in die 1980er Jahre und zu seiner Geschichte für Paolo Sorrentino in der Netflix‰Produktion „É stata la mano di dio“, die bei den Filmfestsp­ielen in Venedig ihre Weltpremie­re hatte. Der Film erzählt von einer Großfamili­e in Neapel und einem glückliche­n Leben, bis ein schrecklic­h tragisches Ereignis über alle hereinbric­ht.
Foto: Netflix Zurück in die 1980er Jahre und zu seiner Geschichte für Paolo Sorrentino in der Netflix‰Produktion „É stata la mano di dio“, die bei den Filmfestsp­ielen in Venedig ihre Weltpremie­re hatte. Der Film erzählt von einer Großfamili­e in Neapel und einem glückliche­n Leben, bis ein schrecklic­h tragisches Ereignis über alle hereinbric­ht.

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