Jack London: Der Seewolf (12)
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Ich konnte diese Bücher nicht mit dem Manne, wie ich ihn bisher kennengelernt hatte, in Einklang bringen. Ob er sie wirklich las? Als ich aber das Bett machte, fand ich zwischen den Decken die vollkommene Cambridge-Ausgabe von Browning, die ihm offenbar beim Einschlafen aus der Hand geglitten war. In dem Buche war ,Auf einem Balkon‘ aufgeschlagen, und ich sah, daß er mehrere Stellen mit einem Bleistift angestrichen hatte. Als ich bei einer heftigen Bewegung des Schiffes den Band fallen ließ, fiel ein Blatt Papier heraus. Es war über und über mit geometrischen Figuren und Berechnungen bekritzelt.
Es war klar, daß dieser furchtbare Mensch nicht der unwissende Dummkopf sein konnte, für den man ihn nach seinen Ausbrüchen von Brutalität unweigerlich halten mußte. Er wurde mir plötzlich ein Rätsel. Ich hatte schon bemerkt, daß seine Sprache ausgezeichnet war, nur gelegentlich konnte sich ein kleiner Fehler einschleichen. In der Unterhaltung mit Seeleuten und Jägern strotzte sie natürlich von Slang-Ausdrücken, aber die wenigen Worte, die er bisher mit mir gewechselt hatte, waren klar und korrekt gewesen.
Der Schimmer, den ich von der andern Seite seines Wesens erblickt hatte, muß mich ermutigt haben, denn ich entschloß mich, über den Verlust meines Geldes mit ihm zu sprechen.
„Ich bin bestohlen worden“, sagte ich zu ihm, als ich ihn bald darauf traf, wie er allein auf dem Hinterdeck auf und ab schritt.
„Käptn“, verbesserte er mich, nicht rauh, aber ernst. „Ich bin bestohlen worden, Käptn“, machte ich meinen Fehler wieder gut.
„Wie ist das zugegangen?“fragte er.
Da erzählte ich ihm die ganze Geschichte, wie ich mein Zeug zum Trocknen in der Kombüse gelassen hatte und später, als ich dem Koch gegenüber etwas davon erwähnte, beinahe von ihm geschlagen worden war. Er lächelte bei meinem Bericht. „Nebeneinnahmen“, schloß er. „Köchleins Nebeneinnahmen. Finden Sie nicht, daß Ihr Leben den Preis wert war? – Nebenbei: Betrachten Sie es als eine Lehre. Lernen Sie, selbst auf Ihr Geld zu achten. Ich denke mir, daß das bis jetzt ein Rechtsanwalt oder Geschäftsmann für Sie besorgt hat.“
Ich konnte einen heimlichen Spott aus seinen Worten heraushören, fragte jedoch: „Was kann ich tun, um es wiederzubekommen?“
„Das ist Ihre Sache. Jetzt haben Sie keinen Rechtsanwalt oder geschäftlichen Berater, und da müssen Sie schon selbst für sich sorgen. Wenn Sie einen Dollar bekommen, so halten Sie ihn fest. Wer Geld herumliegen läßt, wie Sie es getan, der verdient es nicht besser, als daß er es verliert. Überdies haben Sie gesündigt. Sie haben kein Recht, Ihre Mitmenschen solchen Versuchungen auszusetzen. Sie haben Köchlein in Versuchung geführt, und er fiel. Sie haben seine unsterbliche Seele in Gefahr gebracht. Nebenbei: Glauben Sie an die Unsterblichkeit der Seele?“
Seine Lider hoben sich langsam, als er die Frage stellte, und in der Tiefe seiner Augen, in die ich blickte, schien sich mir die Seele zu öffnen. Aber es war eine Täuschung. Kein Mensch hat je wirklich die Tiefe von Wolf Larsens Seele ergründet – davon bin ich überzeugt. Es war eine sehr einsame Seele, wie ich erfahren sollte, die sich nie ganz entschleierte, wenn sie es auch in seltenen Augenblicken zu tun vorgab.
„Ich lese Unsterblichkeit in Ihren Augen“, antwortete ich, indem ich das ,Käptn‘ unterließ – ein Wagnis, das ich mit Hinblick auf die vertrauliche Unterhaltung versuchte.
Er achtete nicht darauf. „Sie sehen also etwas, das lebt, aber es ist nicht gegeben, daß es ewig leben wird.“
„Ich sehe mehr als das“, sagte ich kühn.
„Dann sehen Sie Bewußtsein. Bewußtsein des Lebens, das jetzt ist – aber immer noch kein künftiges Leben, keine Endlosigkeit des Seins.“
Wie klar er dachte, und wie gut er seine Gedanken auszusprechen vermochte! Nach einem forschenden Blick auf mich wandte er den Kopf und schaute über das bleifarbene Meer in Luv. Kälte trat in seine Augen, und der Zug um seinen Mund wurde streng und herb. Offenbar war seine Stimmung pessimistisch geworden.
„Und zu welchem Zweck?“fragte er plötzlich und wandte sich mir wieder zu. „Wenn ich eine unsterbliche Seele hätte – wozu?“
Ich zögerte. Wie sollte ich diesem Manne meinen Idealismus verständlich machen? Wie sollte ich ein reines Gefühl ausdrücken, etwas wie im Schlafe gehörte Musik, etwas, das überzeugend und doch unaussprechlich war?
„Was glauben Sie denn?“lautete meine Gegenfrage.
„Ich glaube, daß das Leben ein wirres Durcheinander ist“, erwiderte er. „Es ist wie Hefe, wie ein Ferment, etwas, das sich bewegt und sich vielleicht eine Minute, eine Stunde, ein Jahr oder hundert Jahre bewegen mag, das aber schließlich doch aufhören wird, sich zu bewegen. Die Großen fressen die Kleinen, um sich die Kraft zur Bewegung zu bewahren. Wer Glück hat, frißt am meisten und bewegt sich am längsten, das ist alles. Was halten Sie davon?“
Er machte eine ungeduldige Armbewegung in der Richtung der Matrosen, die mittschiffs an irgendwelchem Tauwerk arbeiteten.
„Die bewegen sich, aber das tut die Qualle auch. Sie bewegen sich, um essen und sich weiter bewegen zu können. Da haben Sie’s. Sie leben um ihres Bauches willen, und ihr Bauch um ihretwillen. Es ist ein Kreislauf. Es gibt kein Ziel, weder für sie noch für die andern. Am Ende steht alles still. Alle Bewegung hört auf. Sie sind tot.“
„Sie haben Träume“, unterbrach ich ihn, „strahlende, lichte Träume.“
„Vom Essen“, erklärte er kurz und bündig.
„Und von…“
„Mehr Essen. Von gutem Appetit und dem Glück, ihn zu befriedigen.“Seine Stimme klang rauh und schwer. „Denn, sehen Sie, die Leute träumen von glücklichen Reisen, die ihnen mehr Geld einbringen sollen, träumen davon, Steuermann zu werden und Reichtümer zu sammeln – kurz: besser imstande zu sein, ihre Mitgeschöpfe auszunutzen, gute Nachtruhe zu haben, gutes Essen zu bekommen und die andern die schmutzige Arbeit für sich tun zu lassen. Sie und ich, wir sind genau so. Der einzige Unterschied ist, daß wir mehr und besser gegessen haben. Jetzt bin ich es, der die andern verzehrt und Sie dazu. Aber bis jetzt haben Sie mehr gegessen als ich. Sie haben in weichen Betten geschlafen, feine Kleider getragen und gute Mahlzeiten gegessen. Wer hat diese Betten, diese Kleider und Mahlzeiten geschaffen? Sie nicht. Sie haben nie etwas im Schweiße Ihres Angesichts getan. Sie lebten von Einnahmen, die Ihr Vater Ihnen geschaffen hatte. Sie glichen dem Fregattvogel, der auf den Tölpel niederstößt und ihm den gefangenen Fisch entreißt.