Rekordverdächtig mächtig
Er ist ein Politiker, der Konflikte in seiner Partei notfalls alleine löst. Weil er das Ansehen dafür hat und das Netzwerk. Jetzt schaltet sich Wolfgang Schäuble in den bislang enttäuschenden Wahlkampf der Union ein – doch kommt zu spät
Offenburg/Berlin Es ist seine erste Wahlkampfveranstaltung in diesem Jahr und Wolfgang Schäuble kommt zu spät. Mit satten 45 Minuten Verzögerung erscheint der CDU-Politiker zum Termin in Schutterwald, einem beschaulichen Flecken nur wenige Kilometer von seinem Wohnsitz Offenburg entfernt. Hier wie dort schicke Fachwerkhäuser, gepflegte Vorgärten. Das ist Schäubles Wahlkreis, hier tritt er erneut an.
Eine Handvoll Personenschützer begleitet den Bundestagspräsidenten bei seinem Einzug in die Mörburghalle II, eine von zwei großen Sporthallen in Schutterwald. Unter den Hemden der Männer zeichnen sich schussfeste Westen ab, draußen stehen ein paar Streifenwagen und ihre uniformierten Besatzungen. Schäuble hat zwar nie den Kontakt zu seiner Heimat abgebrochen, er hat seine Leute in Baden-Württemberg
nie vergessen. Aber schon das versammelte Waffenarsenal macht deutlich, dass da einer sitzt, für den Offenburg zu klein ist. Ein Machtpolitiker, wie es ihn bei der Union sonst nicht mehr gibt. Das Schräuble, das alles zusammenhält.
Als sich später ein Mann dem Tisch nähert, an dem Schäuble sitzt, rücken zwei seiner Leibwächter blitzschnell ein paar Meter vor. Der in Jeans und langer Jacke gekleidete ältere Herr erweist sich als harmlos. Er will nur ein persönliches Anliegen vortragen, Schäuble hört zu und sagt, er möge ihm eine Mail schicken. Aber der Vorfall weckt sofort Erinnerungen an den 12. Oktober 1990. Damals wurde Schäuble bei einem Attentat niedergeschossen. Eine Kugel traf den Kiefer, die andere das Rückenmark. Seitdem sitzt er im Rollstuhl.
Offenburg ist mit mehr als 61 000 Einwohnerinnen und Einwohnern die größte Stadt des Ortenaukreises und gilt als Oberzentrum des mittelbadischen Wirtschaftsraums. Der Schwarzwald lädt zum Wandern ein, es gibt viele Seen, gut ausgebaute Radwege und ordentliche Weinstöcke. Offenburg ist so ein Ort, der dem Herrn-der-Ringe-Erfinder
J.R.R. Tolkien bei der Schilderung des Auenlandes zum Vorbild gedient haben könnte. Malerische Hügel mit Menschen, die in sich ruhen und ihr Leben möglichst störungsfrei genießen wollen. Schäuble hingegen ist auch mit bald 79 Jahren ruhelos und in der Union so etwas wie der Störer des Friedens. Er hatte sich zunächst für Friedrich Merz eingesetzt und wollte ihn zum CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten machen. Als das nicht klappte, unterstützte er Armin Laschet und setzte ihn gegen den CSUVorsitzenden Markus Söder durch.
„Ich habe ja keinen Hehl daraus gemacht, muss ich auch heute nicht machen, es ist ja keine Schande, für niemanden – ich habe Friedrich Merz gewählt“, gibt Schäuble in der mit CDU-Flaggen geschmückten Sporthalle zu. Knapp 100 Menschen erleben dort, wie er seine Volten schönredet, die CDU und CSU erst an den Rand der Spaltung gebracht und sie dann am Ende genau davor bewahrt haben.
„Das Entscheidende ist doch, dass man nicht schwätzt, sondern macht“, sagt Schäuble in der Turnhalle. Er meint damit zunächst die neben ihm sitzende Notärztin und Pandemiebeauftragte Lisa Federle, die mit ihrem Vortrag zu dem von ihr erfundenen Tübinger CoronaModell „Öffnen mit Sicherheit“bravourös 45 Minuten in Schäubles Wahlkampf-Veranstaltung überbrückt hat. Im Publikum sind alte wie junge Menschen. Frauen im teuren Blazer sitzen neben Männern mit weißen Socken und Sandalen. Wenn Meinungsforschungsinstitute den Begriff „repräsentativ“für ihre Umfragen benutzen, meinen sie womöglich genau diese Mischung.
Eigentlich war ein Gespräch zwischen Federle und Schäuble geplant, aber das findet wegen seiner Verspätung nicht mehr statt. Schäuble lässt es sich jedoch nicht nehmen, die CDU-Parteifreundin als „fantastische Frau“zu loben. Man kennt das aus seinen Zeiten als Finanzminister, damals schwärmte er für die IWF-Chefin Christine Lagarde. Ihr Name fällt auch an diesem Abend. Schäubles Ehefrau Ingeborg ist ebenfalls in der Halle zu Gast. Sie sitzt vorne, ihr Gesicht ist bei dieser Lobhudelei nicht zu erkennen. Es geht aber auch umgekehrt. „Ich bewundere ihn. Für uns ist er ein Star“, sagt eine Frau aus dem Publikum über Schäuble. 13 Mal ist er hier bisher angetreten und jedes Mal hat er seinen Wahlkreis direkt gewonnen. Nur bei zwei Wahlen lag er unter 50 Prozent Zustimmung.
Dass man nicht schwätzen, sondern machen solle, diesen Satz bezieht der Wahlkämpfer auch auf Armin Laschet. Er erinnere sich, sagt Schäuble und legt dabei in typischer Manier seinen Kopf leicht schräg in die Finger der rechten Hand, an dessen Bewerbungsrede auf dem digitalen CDU-Wahlparteitag im Januar 2021. Laschet habe da gesagt, „wenn es ums Polarisieren geht, bin ich nicht so gut“, zitiert Schäuble. Sein Stil sei eher das Zusammenführen, so habe Laschet weiter erklärt. Schäuble macht jetzt den Spitzenkandidaten nach, führt beide Hände in der Luft zusammen.
Das Publikum lauscht ihm gebannt, verfolgt jede seiner Bewegungen. In diesen Zeiten, fährt Schäuble fort, mit „unheimlichen Veränderungen und Problemen und vielen Fragen, auf die es keine hundertprozentige Antwort gibt“, brauche es Vertrauen. „Und da ist es doch besser, wenn man einen Bundeskanzler hat als Nachfolger von Angela Merkel, der zusammenführt.“Laschet sei derjenige, der Land und Gesellschaft die nötige Stabilität geben werde. „Deshalb glaube ich, dass er gerade in diesen Zeiten, gerade mit diesen großen Herausforderungen, mit der CDU als großer Volkspartei, der richtige Kanzler ist.“
Dass Laschet sich in knapp drei Wochen zur Wahl stellen kann, hat er maßgeblich Schäuble zu verdanken, denn der hat die K-Frage in der Union in der Nacht zum 19. April mit entschieden. Die Kontrahenten Söder und Laschet trafen sich in Berlin. Er sei gebeten worden, dabei zu sein, sagte Schäuble danach. „Und dann habe ich gesagt, dass ich zwar diese Nachtsitzungen nicht mehr mag, aber wenn es hilft, dann bin ich dazu bereit.“Söder war am nächsten Morgen klar, dass er als CSU-Kanzlerkandidat von der CDU im Wahlkampf keine Rückendeckung bekommen hätte – woraufhin er noch ein bisschen die Muskeln spielen, es am Ende aber sein ließ.
Schäuble entscheidet solche Sitzungen und lenkt die Union, weil er als einer der Wenigen noch die Macht dazu hat. Weder Söder noch Laschet verfügen über ein derart großes Netzwerk wie er. Sie genießen nicht Schäubles Ansehen, das über Parteigrenzen hinausstrahlt. Nicht umsonst war er in der K-Frage eine Zeit lang als Alternative für Laschet im Gespräch gewesen. Der CDU-Politiker füllt das Vakuum aus, das Angela Merkel hinterlassen hat, seit sie vor Monaten beschloss, sich nicht mehr in Parteigeschicke einzumischen. Schäuble ist das Langzeitgedächtnis der Bundesrepublik, er hat einen brillanten Verstand, vergisst niemals, nichts und niemanden. Vielseitige Einflussnehmer wie er sind in der Union ausgestorben.
Dieses Gewicht wirft Schäuble jetzt in die Waagschale, um den Wahlkampf für die Union noch zu drehen. Bekanntlich läuft es schlecht für CDU und CSU, die SPD hat sie in den Umfragen mittlerweile überholt.
Folgerichtig erklärt Schäuble den Menschen im Saal, dass SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz nicht der richtige Kanzler für Deutschland ist. Er fällt dabei aus seiner Rolle als eloquenter, distinguierter Weltpolitiker und sagt, Scholz habe sich beim Dreier-Treffen im Fernsehen gewunden „wie ein Hund“. Schäuble meint das Afghanistan-Thema und die Abwehrhaltung der SPD gegenüber bewaffneten Drohnen. Beim Publikum kommt das gut an, es klatscht sehr laut Beifall.
Schäuble ist jetzt nicht mehr zu bremsen. Der derzeitige „Überbietungswettbewerb“beim Klimaschutz öde ihn an, sagt er. Natürlich sei früher immer besser in Sachen Klima. Aber man könne beispielsweise die Stahlproduktion nicht einfach so verteuern, das koste am Ende Arbeitsplätze, sagt der CDUKandidat und ist so ganz schnell bei der Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock angekommen. Die hatte die Erfindung der Sozialen Marktwirtschaft irrtümlich der SPD zugeschrieben, Schäuble verzieht ob dieses Fauxpas das Gesicht und stellt richtig, dass das mit der Marktwirtschaft „schon der Ludwig Erhard“war, aber das könne Frau Baerbock nicht wissen, sie komme schließlich „vom Völkerrecht her“.
„Nun will ich nicht lange reden. Ich bin ja berühmt dafür, dass ich nur ganz kurz rede“, unterbricht Schäuble nach etwa 20 Minuten kokett seinen Redefluss. Aber er schafft mühelos weitere 20 Minuten, schließlich stecken rund 50 Jahre Politikgeschichte in ihm.
Er habe sich, sagte Schäuble einmal an anderer Stelle, schon früh für Politik interessiert – „lange bevor ich daran dachte, daraus einen Beruf zu machen“. Er war zweimal Innenminister, Finanzminister, Kanzleramtschef, Fraktionsvorsitzender. CDU-Vorsitzender war er so lange, bis er in den Strudel der Parteispendenaffäre geriet. Schäuble gehört zu den Architekten der deutschen Einheit. In den Zeiten der Eurokrise und der milliardenschweren Hilfsprogramme warnte er die griechische, in seinen Augen nimmersatte Regierung mit den Worten „Isch over“– und kann darüber heute selber lachen. Dieser Ausspruch, sagt Schäuble, gehöre ja mittlerweile „fast zur Weltliteratur“.
Es mag diese Mischung aus feiner Selbstironie und starkem Sendungsbewusstsein sein, die Schäuble all
Die Erinnerung an das Attentat ist immer da
Am Ende zeigt sich der normale Schäuble
die Jahre über an der Macht gehalten hat. Die ihn persönliche wie politische Tiefen überstehen ließ und ihn immer wieder nach oben brachte. Die ihn das Publikum mahnen lässt, man möge doch bitte „keine Querdenker und sonstigen Spinner“wählen – ihn dann aber kurz innehalten und betonen lässt, mit einigen Corona-Gegnern könne man doch ganz vernünftig sprechen.
Am Ende des Abends in der Sporthalle, es geht auf 22 Uhr zu, zeigt sich der normale Schäuble, der Offenburger. Als alles schon vorbei scheint, der obligatorische Präsentkorb übergeben ist, die Leibwächter ihre Pistolenhalfter zurechtgerückt haben und zum Aufbruch bereit sind, steht eine ältere Frau auf. Daunenjacke und Hose sind farblich aufeinander abgestimmt, die kurzen Haare flammendrot gefärbt. Auf ihren Rollator gestützt, wendet sie sich an das Publikum und wirbt offensiv „für den Wolfgang“. Der guckt erst fragend, dann blitzt die Erkenntnis über sein Gesicht. Die Frau, die da spricht, ist Gertrud Bayer, geborene Schäuble. Seine Cousine, zehn Jahre älter als der Bundestagspräsident. Eine seiner frühesten Unterstützerinnen.