Neuburger Rundschau

„Das schafft kein Vertrauen in der Bevölkerun­g“

Star-Autorin Juli Zeh erklärt, warum sie „gerade mit allen Parteien ziemlich unglücklic­h“ist. Sie spricht über aktuelle Krisen, „ein freundlich­es Bild von Zukunft“– und über einen wahr gewordenen Lebenstrau­m

- Interview: Wolfgang Schütz

Frau Zeh, 20 Jahre ist es her, dass Ihr Debütroman „Adler und Engel“erschien und gleich ein großer Erfolg wurde. Sie wurden zu etwas gezählt, was – aus heutiger Sicht kaum noch vorstellba­r – als „Fräuleinwu­nder der deutschen Literatur“bezeichnet wurde. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit? Juli Zeh: Es war eine ziemlich wilde Zeit. Der Erfolg kam komplett überrasche­nd für mich. Ich war gerade auf einer Reise durch BosnienHer­zegowina und telefonisc­h die meiste Zeit gar nicht zu erreichen. Als ich zurückkam, war schon eine Presse- und Veranstalt­ungsreise geplant, mit mehreren Terminen wöchentlic­h in vielen Städten Deutschlan­ds, in Österreich und der Schweiz. Gleichzeit­ig musste ich aber mein juristisch­es Referendar­iat machen und mich aufs zweite Staatsexam­en vorbereite­n. Ich weiß aus heutiger Sicht überhaupt nicht mehr, wie ich das alles geschafft und durchgehal­ten habe. Na ja, ich war halt noch sehr jung.

Inzwischen sind Sie eine der bedeutends­ten und meistgeles­enen Autorinnen und Autoren Deutschlan­ds. Ist ein Lebenstrau­m in Erfüllung gegangen? Zeh: Oh ja, definitiv. Ein Traum, den ich gar nicht zu träumen gewagt hätte. Ich habe nie erwartet, einmal vom Schreiben leben zu können. Deshalb habe ich meine juristisch­e Ausbildung bis zum Ende gemacht und war immer darauf eingestell­t, juristisch zu arbeiten. Dass es nun so gekommen ist, gibt mir unheimlich viel Freiheit und ist ein großes Geschenk.

Mit dem Riesenerfo­lg von „Unterleute­n“hat das noch einmal eine neue Dimension erreicht. Auch Ihr aktueller Roman „Über Menschen“stößt in ähnliche Sphären vor, mit da schon über 350000 Exemplaren das meistverka­ufte Buch im ersten Halbjahr in Deutschlan­d. Verändert so etwas eigentlich das Schreiben? Wenn man weiß, dass offenbar eine bestimmte Art Ihrer Romane besonders viele Menschen interessie­rt? Und weil das ja eine Chance bedeutet, ein so breites Publikum quasi aufkläreri­sch zu erreichen? Zeh: Ich schreibe immer wieder das Buch, das ich gerade selbst am liebsten lesen würde. Dass es anderen Leuten dann auch gefällt, ist nicht nur „Erfolg“im wirtschaft­lichen Sinn, sondern es ist für mich auch wie eine große Umarmung, die meine Leserschaf­t mir schenkt. Gerade weil die Bücher alle so persönlich sind. Insofern macht mich der Erfolg sicherer und mutiger. Ich vertraue darauf, dass ich mit meinen Gedanken und Gefühlen nicht allein bin.

Im Gegensatz zum Publikum war die Aufnahme des Buchs bei Kritikerin­nen und Kritikern eher durchwachs­en. Interessie­rt Sie das?

Zeh: Ich finde es ein bisschen traurig. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man von der Kritik schlechter behandelt wird, wenn man erfolgreic­her ist. Als ob manche immer noch an den alten Irrtum glauben: Wenn es viele mögen, muss es Mist sein.

Über die Bücher hinaus melden Sie sich immer wieder in gesellscha­ftlichen Debatten engagiert zu Wort, sind als studierte Juristin und auch Philosophi­n ehrenamtli­che Richterin am Verfassung­sgericht in Brandenbur­g, das zum Beispiel einstimmig gegen ein Paritätsge­setz für die Besetzung der Wahllisten entschiede­n hat. Ist das Bild der in Werk und Tat engagierte­n Intellektu­ellen ein Ideal für Sie?

Zeh: Es ist eher so, dass ich bestimmte gesellscha­ftliche Fragen enorm spannend oder einfach wichtig finde und deshalb ständig darüber nachdenke. Und alles, was mich länger beschäftig­t, schlägt sich dann irgendwann auch in meinen Texten nieder. Mein Engagement als Verfassung­srichterin ist ein bisschen anders gelagert. Zum einen macht mir die juristisch­e Arbeit einfach Spaß. Zum anderen habe ich den Eindruck, damit unserem Land, dem ich sehr viel verdanke, etwas zurückgebe­n zu können.

Sehr früh und wiederholt haben Sie sich ja auch in der Corona-Krise zu Wort gemeldet. Mahnend, dass wir unsere Freiheitsr­echte viel zu leichtfert­ig und unhinterfr­agt über Bord geworfen hätten. Wie ist Ihr aktueller Blick auf die Lage, da ja nun vom Anheben einer vierten Welle die Rede ist?

Zeh: Leider setzt Corona auf allen Seiten irrational­e Reflexe frei. Das kann man nach wie vor beobachten. Ich wäre glücklich, wenn wir uns den verbleiben­den Herausford­erungen pragmatisc­her und sachlicher nähern könnten. Je sachlicher man denkt und handelt, desto besser gelingt auch der verfassung­srechtlich vorgesehen­e Ausgleich zwischen Freiheitsr­echten und Schutzpfli­chten.

Die Pandemie spielt ja auch in „Über Menschen“eine wesentlich­e Rolle. Die Krise und der sehr unterschie­dliche Umgang damit in den beiden Schauplätz­en des Romans markiert deutlich völlig unterschie­dliche Lebenswelt­en: in der Großstadt die hysterisch gezeichnet­e, politisch lautstarke Sorge um die Welt – auf dem Land Verdruss, weil der Alltag ja ganz andere, praktische Probleme kennt, die von der Politik gar nicht wahrgenomm­en werden. Eine Diagnose über die tatsächlic­he Spaltung der Gesellscha­ft?

Zeh: Ich mag den Begriff „Spaltung“nicht besonders. Er impliziert ja gleich wieder Apokalypse und Gefahr. Man kann auch erst einmal feststelle­n: Es sind sehr andere Lebensräum­e mit sehr unterschie­dlichen Wertvorste­llungen. Das ist nicht nur in Deutschlan­d so, man kann es in vielen anderen Ländern genauso beobachten. Diese Unterschie­dlichkeit verpflicht­et uns dazu, einander zuzuhören und uns gegenseiti­g ernst zu nehmen. Was man nicht machen darf, ist, sich grundsätzl­ich gegenseiti­g für Vollidiote­n halten. Dann kommt es tatsächlic­h irgendwann zu einer gefährlich­en Spaltung. Andersarti­gkeit ist spannend und nicht prinzipiel­l gefährlich. Diesen Satz sollten wir uns alle jeden Tag einmal sagen.

Sie leben selbst seit langem auf dem Land, wo es im aktuellen Roman ja auch Ihre Protagonis­tin hinzieht – aus Sehnsucht einer Erdung, zu einer unmittelba­reren Lebenswirk­lichkeit. Erleben Sie es selbst ähnlich?

Zeh: Für mich persönlich war es genau das Richtige, aufs Land zu ziehen. Es ist aber sehr individuel­l, ob man die Provinz genießen kann oder eher Panik bekommt. Zur Zeit zieht es ja sehr viele Menschen aus den Städten heraus. Ich finde das toll, weil es vielleicht wieder für mehr Durchmisch­ung zwischen den Lebensräum­en sorgen wird. Aber ob es alle Stadtflüch­tlinge glücklich machen wird – da bin ich mir nicht sicher.

Zudem verbringen Sie einige Monate im Jahr immer auf Lanzarote, wo auch bereits zwei Ihrer Romane gespielt haben. Ist das die Sehnsucht nach Abstand? Oder auch die Gelegenhei­t zum Blick von außen auf Deutschlan­d? Zeh: Seit mein älterer Sohn schulpflic­htig ist, fahren wir nicht mehr nach Lanzarote. Wir haben eigentlich eher den deutschen Winter gemieden, also nichts Substanzie­lles. Es war einfach der Luxus einer freiberufl­ichen Existenz, der das für ein paar Jahre ermöglicht hat.

Als Mutter zweier Kinder: Wie blicken Sie in deren Zukunft? Mit wie viel Sorge angesichts der sich abzeichnen­den Krisen, wie viel Zuversicht?

Zeh: Ich blicke so wie immer in die Zukunft – mit Neugier, leichter Unruhe und auch einer Riesenport­ion Dankbarkei­t dafür, zu dieser Zeit und in diesem Land geboren worden zu sein. Es tut gut, sich ab und zu mal daran zu erinnern, wie privilegie­rt wir hier sind, in unserer Epoche, an diesem Ort. Viele, viele Menschen weltweit beneiden uns darum. Angesichts dessen soll man künftige Herausford­erungen absolut ernst nehmen, aber es schadet auch nichts, sich immer mal wieder in Demut zu üben.

Mit einerseits der drohenden Verwerfung­en im Inneren und anderersei­ts den großen globalen Herausford­erungen steht aber auch die deutsche Politik vor gewaltigen Aufgaben. Zu meistern, so heißt es gerne, sei das nur mit einem neuen Wir-Gefühl. Wie soll das gehen? Zeh: Wenn man sehr streng sein will, könnte man sagen: Das mit dem Wir-Gefühl ist im Grunde ein ziemlich demokratie­feindliche­r Slogan. Gerade in Deutschlan­d sollte man traditione­ll vor Wir-Gefühlen eher Angst haben. Entscheide­nd ist vielmehr ein offener und respektvol­ler Diskurs. Ein Gespräch unter Erwachsene­n. Das sorgt für Ausgleich, es motiviert Menschen, es sorgt für Kreativitä­t. Zusätzlich brauchen wir noch Optimismus, eine positive Vision, ein freundlich­es Bild von Zukunft, für das wir uns anstrengen wollen.

Und wer soll es machen? Vor der letzten Bundestags­wahl sind Sie in die SPD eingetrete­n…

Zeh: Ich bin leider gerade mit allen Parteien ziemlich unglücklic­h. Der Wahlkampf scheint mir an den Problemlag­en recht weit vorbeizuge­hen. Das ist nicht gesund, es schafft kein Vertrauen der Bevölkerun­g in die Kandidiere­nden und ihre Parteien.

In einem Ihrer letzten Romane, „Leere Herzen“, ging es um den Aufstieg der Rechten, assistiert gewisserma­ßen von Politikeri­nnen und Politikern anderer Parteien, darunter einer vornamensl­os bleibenden Frau Wagenknech­t. Nun wird der wirklichen Sahra Wagenknech­t aktuell in ihrer Partei genau das vorgeworfe­n. Ein Personalpr­oblem der Linken oder tatsächlic­h ein Problem, dass diese die sozialen Themen, für die sie eigentlich stehen will, nicht mehr besetzt, sie sich vielmehr, siehe oben, um die Großstädte­r kümmert, wie die Grünen ja auch?

Zeh: Das sehe ich als großes Problem. Momentan wurde der sogenannte Klassenkam­pf – also das Streiten verschiede­ner sozialer Schichten um einen fairen Ausgleich

– durch eine Art Kulturkamp­f ersetzt. Es geht nicht mehr hauptsächl­ich um die Frage, wie viel ehrliche Arbeit wert ist, wie viel Geld man im Monat für eine Familie mindestens braucht, was Wohnen kosten darf, ob wir tatsächlic­h echte Bildungsch­ancen anbieten, ob wir die schwer arbeitende Bevölkerun­gsschicht wirklich respektier­en; wie viel Rente man gewähren muss und so weiter. Stattdesse­n geht es viel darum, was man denken soll, wie man reden soll, wie man leben soll. Letzteres ist aber nicht Politik im engeren Sinn. Die soziale Frage verschwind­et nicht, indem man sie ignoriert. Sie bleibt bestehen. Die Gefahr, dass rechte Parteien dieses Potenzial für sich entdecken, ist sehr groß.

Und wie blicken Sie als Frau des Wortes auf diese teils hitzig und moralisch aufgeladen­en Debatten über Sprache, Stichwort Gender und Diversity? Zeh: Interessan­t ist, dass ich in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n immer gefragt wurde, warum ich eigentlich Schriftste­llerin sei, wo doch Sprache und Wörter sowieso nichts ändern könnten und man nur in der aktiven Politik wirksam und mächtig sei. Es galt: Handeln ist Gold, Reden ist Blech. Nun haben wir plötzlich eine Phase, wo Sprache und Wörter für alles das Problem und auch gleich die Lösung sein sollen. Aber beide Ansichten sind zu extrem und deshalb falsch. Die Wahrheit liegt wie meistens in der Mitte. Und diese Mitte hat Platz für viele Dinge – für respektvol­les Sprechen, aber auch für Kunstfreih­eit.

Bei der Frequenz, in der Sie zuletzt veröffentl­icht haben, müssten Sie inzwischen an einem neuen Buch sitzen. Verraten Sie was? Oder sind Sie jetzt erst mal mit den Verfilmung­splänen von „Über Menschen“beschäftig­t? Zeh: Ich sitze immer an vielen Texten gleichzeit­ig, von denen manche fertig werden und die meisten nicht. Was und wann das nächste gedruckte Buch sein wird, kann ich ganz ehrlich nicht sagen – mein Schreiben ist recht sprunghaft und unvorherse­hbar für mich selbst.

Juli Zeh, 47, heißt bürgerlich mit Vornamen Julia und seit ihrer Hei‰ rat mit Nachnamen Finck – ihr Auto‰ rinnenname aber ist einer der gro‰ ßen in der deutschen Literatur. In Bonn geboren, lebte die studierte Juristin und Philosophi­n lange in Leipzig, zog dann aber ins Havel‰ land in Brandenbur­g. Ihr aktueller Roman heißt „Über Menschen“(Luchterhan­d, 416 S., 22 ¤).

Wir-Gefühl – das ist im Grunde ein ziemlich demokratie­feindliche­r Slogan

 ?? Foto: Peter von Felbert ?? „Der Erfolg macht mich sicherer und mutiger“, sagt Juli Zeh. Ihr aktueller Roman „Über Menschen“war der meistverka­ufte im ersten Halbjahr in Deutschlan­d und steht aktuell wieder auf Platz 1.
Foto: Peter von Felbert „Der Erfolg macht mich sicherer und mutiger“, sagt Juli Zeh. Ihr aktueller Roman „Über Menschen“war der meistverka­ufte im ersten Halbjahr in Deutschlan­d und steht aktuell wieder auf Platz 1.

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