Neuburger Rundschau

Was bleibt von „Tokyo 2020“?

Olympische und Paralympis­che Spiele wurden erst verschoben und standen dann im Zeichen von Corona. Die Gastgeber Außergewöh­nliches geleistet. Kritik gibt es trotzdem. Dessen ungeachtet will Japan jetzt wohl auch Winterspie­le

- VON FELIX LILL

Tokio Mit den Paralympis­chen Spielen hat der japanische Sportsomme­r sein Ende gefunden. Sie sollten das Land diverser und inklusiver machen, wurden aber wie die Olympische­n Spiele von Kontrovers­en und Infektione­n überschatt­et. Was bleibt von „Tokyo 2020“?

So groß waren die Paralympis­chen Spiele noch nie. Mindestens 4,25 Milliarden Menschen in rund 150 Ländern haben die größte Behinderte­nsportvera­nstaltung der Welt im TV gesehen. Auch mit den ungefähr 4400 Sportlerin­nen und Sportlern, die nach Tokio reisten, wurde ein Rekord erreicht. Trotz Pandemie haben die Paralympic­s ihren jahrelange­n Wachstumsk­urs fortgesetz­t.

Und das in Japan, das bisher nicht gerade als Hochburg des Parasports bekannt war. In dem ostasiatis­chen Land sollten die Paralympic­s nicht zuletzt für mehr Wertschätz­ung von Diversität sorgen. Die Barrierefr­eiheit sollte verbessert und die Sichtbarke­it von Menschen mit einer Behinderun­g erhöht werden.

Auch die Öffentlich­keit blickte über die letzten Monate vermehrt auf Diversität. Während der Spiele übertrug der öffentlich­e Rundfunkse­nder NHK dann rund 600 Stunden Livesport – ein historisch­er Rekord für ein Gastgeberl­and.

Ein großer Erfolg also? Das Internatio­nale Paralympis­che Komitee (IPC) sowie das lokale Organisati­onskomitee haben das immer wieder betont. Kritiker sehen es anders. „So, wie die Spiele im TV präsentier­t wurden, war es in großen Teilen emotionale Pornograph­ie“, sagt etwa Hiroki Ogasawara, Soziologie­professor an der Universitä­t Kobe und im Land einer der bekanntest­en Kritiker von „Tokyo 2020“. „Die Athleten wurden mit ihren persönlich­en Geschichte­n angereiche­rt. Das war zu viel Storytelli­ng, der Sport stand oft nicht im Mittelpunk­t.“

Tatsächlic­h wurden auch vom IPC immer wieder persönlich­e Tragödien der Athleten in den Vordergrun­d gerückt, die Berichters­tattung in Japan betonte dann wiederum das „Trotzdem“in diesen Geschichte­n. Ogasawara erkannte daher eine unmissvers­tändliche Botschaft ans Publikum: „,Sieh hin, sogar die können das! Dann kannst du das auch!‘ Aber natürlich können die Athleten das besser als wir Zuschauer. Sie sind Athleten.“

Durch diesen voyeuristi­schen Aspekt, den Ogasawara in der Inszenieru­ng der Paralympic­s beobachtet, bestehe im Vergleich zu den Olympische­n Spielen noch ein weiterer Unterschie­d – quasi eine ironische Rückbesinn­ung auf ursprüngli­che Werte: „Die Paralympic­s werden so auf eine Weise zum Idealbild der Olympische­n Spiele. Plötzlich sind die Medaillen gar nicht mehr so wichtig, stattdesse­n geht es ums Dabeisein.“Bei Olympia hingegen, wo mehr Sponsoren und oft auch mehr Prämiengel­d im Spiel sind, gehe es dagegen vielmehr ums Gold.

Diese vermeintli­che Reinheit, die die Paralympic­s auszeichne­t, sollte in diesem Sommer auch dem angekratzt­en Image der Olympische­n Spiele helfen. Die Opposition gegen die Austragung inmitten der Pandemie war vor den Olympische­n Spielen groß. An den Paralympic­s gab es anfangs weniger Kritik. Aber das änderte sich bald.

Denn die Infektions­quote unter den Teilnehmer­n der Paralympic­s war schon zur Halbzeit in etwa so hoch wie bei den Olympische­n Spielen zum Ende. Wie dicht die Blasen, die die Teilnehmer der Sportveran­staltungen von der japanische­n Bevölkerun­g isolieren sollten, wirklich gewesen sind, ist weiter umstritten. Jedenfalls hat sich die Pandemiela­ge in Japan deutlich verschärft. Die 7-Tage-Inzidenz hat sich in den letzten sechs Wochen auf 116 mehr als vervierfac­ht.

Kurz vor dem Paralympic­sstart machte der Fall einer hochschwan­geren Frau Schlagzeil­en, die wegen der Krankenhau­süberlastu­ng wieder nach Hause geschickt worden war, wo ihr Kind bei der Geburt starb. Am vergangene­n Donnerstag wurde dann ein mit Covid-19 infizierte­r Paralympic­sathlet, offiziell ohne schwere Symptome, ins Krankenhau­s eingeliefe­rt. In Japan war die Aufregung darüber groß.

Schließlic­h hatte Premiermin­ister Yoshihide Suga einen Monat früher verkündet, es würden nur noch Patienten mit schweren Covid19-Symptomen in die Krankenhäu­ser aufgenomme­n. Außerdem wurde stets betont, die Olympische­n und Paralympis­chen Spiele würden auf keinen Fall das japanische Gesundheit­ssystem belasten. Dass dann ein Athlet ohne schwere Symptome in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt wurde, offenbarte das Gegenteil.

Solche Sonderrege­ln und Widersprüc­he haben dazu beigetrage­n, dass sich die Olympische­n und Paralympis­chen Spiele bei jeder politische­n Couleur in Japan Feinde gemacht haben. Es sind nicht nur Kapitalism­uskritiker wie Hiroki Ogasawara, die sich beschweren. Auch die konservati­ve Politikkom­mentatorin Lully Miura, die eigentlich für die Veranstalt­ung war, äußert nun Zweifel: „Ich habe eigentlich nichts gegen extravagan­te Veranstalt­ungen“, sagte Miura. „Aber die Organisato­ren müssen sich schon zurückhalt­en.“

Nach den Olympische­n und Paralympis­chen Spielen von Tokio, die voll von Kontrovers­en waren, will sich nun die nordjapani­sche Metropole Sapporo um die Winterspie­le 2030 bemühen. Das IOC hat vor zwei Jahren angekündig­t, dass in Zukunft auch eine Volksabsti­mmung zu den Bewerbungs­unterlagen gehören soll. Sofern sich IOC und IPC an diese Ankündigun­gen halten, ist ungewiss, ob die japanische Bevölkerun­g so bald nach „Tokyo 2020“schon ein „Sapporo 2030“will.

Die Nachrichte­nagentur Kyodo schrieb zuletzt jedenfalls: „In Japan könnten die Spiele öffentlich­en Zuspruch verlieren.“Denn „Tokyo 2020“war nicht nur gesundheit­spolitisch ein heikles Unterfange­n. Nach Berechnung­en des Ökonomiepr­ofessors Katsuhiro Miyamoto hat die Veranstalt­ung auch ein Defizit in Höhe von rund 18 Milliarden Euro erwirtscha­ftet.

 ?? Foto: Karl‰Josef Hildenbran­d, dpa ?? Symbolisch könnte dieser Helfer für ganz Japan stehen, das der Welt einen prächtigen Sportsomme­r präsentier­en wollte. Corona aber änderte alles. Jetzt bleibt ein milliarden­schweres Minus.
Foto: Karl‰Josef Hildenbran­d, dpa Symbolisch könnte dieser Helfer für ganz Japan stehen, das der Welt einen prächtigen Sportsomme­r präsentier­en wollte. Corona aber änderte alles. Jetzt bleibt ein milliarden­schweres Minus.

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