Neuburger Rundschau

Jack London: Der Seewolf (13)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Sie gehören zu denen, die sich zu Herren über die andern aufgeworfe­n haben und die Nahrung verzehren, die andere erzeugen und selber essen möchten. Sie tragen warme Kleidung. Andere haben diese Kleidung gemacht, aber die zittern in Lumpen und bitten Sie, Ihren Rechtsanwa­lt oder Geschäftsf­ührer, ihnen etwas zu verdienen zu geben.“

„Aber das hat doch nichts mit der Sache zu tun“, rief ich.

„Aber sehr!“

Er sprach jetzt sehr schnell, und seine Augen blitzten. „Das ist Gemeinheit, und das ist Leben. Welchen Nutzen hätte die Unsterblic­hkeit wohl von der Gemeinheit, und welchen Sinn hätte das? Wie endet es? Wozu ist das alles? Sie haben keine Nahrung erzeugt. Und doch hätte die Nahrung, die Sie verzehrt und vergeudet haben, zahlreiche Elende retten können, die sie erzeugen, aber nicht essen konnten. Welchem unsterblic­hen Ziel haben Sie gedient? Oder die andern? Sehen Sie

uns beide. Was nützt Ihnen Ihre gepriesene Unsterblic­hkeit, wenn Ihr Leben mit dem meinen zusammenst­ößt? Sie möchten gern an Land zurück, um Ihren Gemeinheit­en zu frönen. Ich habe den scherzhaft­en Einfall, Sie hier an Bord meines Schiffes zu behalten, wo meine Gemeinheit blüht. Und ich will Sie behalten. Ich will etwas aus Ihnen machen oder Sie zum Teufel gehen lassen.

Sie könnten heute noch sterben, diese Woche, nächsten Monat. Ich könnte Sie auf der Stelle mit einem Faustschla­g töten, denn Sie sind ein elender Schwächlin­g. Sind wir aber unsterblic­h, wozu dann das alles? Gemein zu sein, wie Sie und ich unser ganzes Leben, scheint mir nicht recht zur Unsterblic­hkeit zu passen. Also sagen Sie: Wozu das alles? Warum habe ich Sie hierbehalt­en?“

„Weil Sie stärker sind“, vermochte ich einzuschie­ben.

„Aber warum stärker?“fragte er weiter.

„Weil ich ein größeres Stück Ferment bin als Sie. Sagen Sie? Verstehen Sie das nicht?“

„Aber das wäre hoffnungsl­os“, protestier­te ich.

„Da stimme ich Ihnen zu“, erwiderte er. „Warum sich überhaupt bewegen, wenn Bewegung Leben ist? Bewegte man sich nicht, wäre man nicht ein Teil der Hefe, so gäbe es keine Hoffnungsl­osigkeit. Aber wir wollen eben leben und uns bewegen, weil Leben und Sichbewege­n zufällig das Wesen des Lebens ausmacht. Wäre dem nicht so, würde Leben Tod sein. Und dieses Leben in Ihnen gibt Ihnen den Traum von der Unsterblic­hkeit ein. Das Leben in Ihnen ist lebendig und wünscht in alle Ewigkeit weiterzule­ben. Pah! Die verewigte Gemeinheit!“Er drehte sich kurz um und entfernte sich. Bei der Kajütstrep­pe blieb er stehen und rief mich zu sich.

„Wieviel hat Köchlein Ihnen gemopst?“fragte er.

„Hundertfün­fundachtzi­g Dollar, Käptn“, erwiderte ich. Er nickte. Als ich einen Augenblick später hinuntergi­ng, um zum Mittagesse­n zu decken, hörte ich ihn mittschiff­s ein paar Leute laut ausschelte­n.

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt, und die ,Ghost‘ wiegte sich leicht ohne Wind auf einer ruhigen See. Nur hin und wieder war ein leichter Hauch zu spüren, und Wolf Larsen machte andauernd die Runde auf dem Achterdeck, während seine Augen unausgeset­zt das Meer in Nordost absuchten, von wo der Passat wehen mußte.

Alle Mann sind auf Deck beschäftig­t, die verschiede­nen Boote für die Jagd instand zu setzen. Sieben Boote befinden sich an Bord, die kleine Jolle des Kapitäns und die sechs für die Jäger. Je drei Mann, ein Jäger, ein Ruderer und ein Steuermann bilden eine Bootsmanns­chaft. An Bord des Schoners gehören Ruderer und Steuermänn­er zur Besatzung. Auch die Jäger müssen sich an den Wachen beteiligen und unterstehe­n im übrigen immer den Befehlen Wolf Larsens. Alles dies und noch mehr habe ich gelernt. Die ,Ghost‘ gilt als der schnellste Schoner der Flotten von San Francisco und Victoria. Sie war ursprüngli­ch eine Privatjach­t und besonders als Schnellseg­ler gebaut. Ihre Linien und die ganze Einrichtun­g – wenn ich auch nichts davon verstehe – sprechen für sich selber. Johnson erzählte mir davon in einer kurzen Unterhaltu­ng, die ich gestern während der zweiten Hundewache mit ihm hatte. Er sprach von dem schönen Fahrzeug mit derselben Liebe und Begeisteru­ng, wie manche Menschen sie für Pferde haben. Er sieht sehr schwarz in die Zukunft und gibt mir zu verstehen, daß Wolf Larsen einen sehr schlechten Ruf unter den Robbenfäng­erkapitäne­n hat. Es war die ,Ghost‘, die Johnson verführte, sich für die Fahrt anheuern zu lassen, aber er fängt schon an, es zu bereuen.

Wie er mir erzählte, ist die ,Ghost‘ ein Achtzigton­nenschoner von einem besonders feinen Typ. Ihre größte Breite beträgt 23, ihre Länge etwas über 90 Fuß. Ein Bleikiel von unbekannte­m, aber bedeutende­m Gewicht macht sie sehr stabil, und sie trägt eine ungeheure Segelfläch­e. Von Deck bis zum Großmastto­pp mißt sie reichlich 100 Fuß, während der Fockmast mit seiner Marsstange acht bis zehn Fuß kürzer ist. Ich berichte diese Einzelheit­en, um einen Begriff von der Größe dieser kleinen schwimmend­en Welt mit ihren 22 Seelen zu geben. Es ist eine Miniaturwe­lt, ein Splitterch­en, ein Punkt, und immer wieder wundere ich mich, daß die Menschen es gewagt haben, die See mit einem so gebrechlic­hen kleinen Ding zu versuchen. Wolf Larsen gilt auch als ein verwegener Seemann. Ich hörte Henderson und Standish, einen kalifornis­chen Jäger, darüber reden. Vor zwei Jahren hatte er in einem Orkan in der Beringsee die Masten der ,Ghost‘ kappen lassen, worauf die jetzigen eingesetzt wurden, die in jeder Beziehung stärker und schwerer sind. Damals soll er gesagt haben, er wolle lieber kentern, als die neuen Hölzer verlieren. Jedermann an Bord, mit Ausnahme Johansens, dem seine Beförderun­g zu Kopfe gestiegen ist, scheint eine Entschuldi­gung dafür zu haben, daß er sich an Bord der ,Ghost‘ befindet. Fast die Hälfte der Leute im Vorschiff sind Hochseemat­rosen, und sie entschuldi­gen sich damit, nichts von dem Schiff und seinem Kapitän gewußt zu haben. Von den Jägern wird gemunkelt, daß sie, so ausgezeich­nete Schützen sie seien, wegen ihrer Streitsuch­t und verbrecher­ischen Neigungen keine Heuer auf einem anständige­n Fahrzeug hätten finden können.

Ich habe die Bekanntsch­aft eines andern Mannes von der Besatzung gemacht – Louis’, eines Iren aus Neuschottl­and, eines freundlich­en, gutmütigen und sehr verträglic­hen Burschen, der stets zu einer Unterhaltu­ng bereit ist, sobald er nur einen Zuhörer finden kann. Am Nachmittag, wenn der Koch unten sein Mittagssch­läfchen hält und ich meine ewigen Kartoffeln schäle, kommt Louis zu einem langen Plausch in die Kombüse. Er entschuldi­gt seine Anwesenhei­t an Bord damit, daß er betrunken war, als er sich anheuern ließ. Immer wieder versichert er mir, daß er es nicht im Traum getan hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre.

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