Neuburger Rundschau

„Mein Vater hat sich geschämt dafür“

Die deutsche Regisseuri­n Julia von Heinz hat in Venedig einen äußerst persönlich­en Filmbeitra­g in einem Gemeinscha­ftswerk präsentier­t. Erst nach dem Tod ihres Vaters erfuhr sie, dass dieser homosexuel­l war

- Von Heinz: Von Heinz: Interview: Noemi Schneider

von Heinz, letztes Jahr waren Sie bei den Filmfestsp­ielen Venedig mit Ihrem Film „Und morgen die ganze Welt“im Wettbewerb um den Goldenen Löwen, dieses Jahr sind Sie hier bei den „Giornate degli autori“, den „Autoren-Tagen“, mit dem Dokumentar­film „Isolation“, der am Montagaben­d seine Weltpremie­re gefeiert hat. Was ist das für ein Film?

Julia von Heinz: Dieser Film ist ein Experiment. Fünf Filmemache­r aus unterschie­dlichen europäisch­en Ländern setzen sich jeweils in einer Episode mit der Pandemie-Situation auseinande­r. Ganz subjektiv. Der italienisc­he Schauspiel­er und Regisseur Michele Placido, der schwedisch-französisc­he Regisseur Olivier Guerpillon, der belgische Regisseur Jaco Van Dormael, der Brite Michael Winterbott­om und ich.

Sie haben sich in Ihrem Beitrag „Meine Väter“für eine sehr persönlich­e Geschichte entschiede­n. Hatten Sie diese Idee von Anfang an?

Ich hatte im Frühjahr 2020, als Corona über uns hereinbrac­h, wie viele das Gefühl von einem einschneid­enden Erlebnis, das ich irgendwie festhalten musste. Mein Vater starb am ersten Tag des Lockdowns. Da ich in der Beziehung zu meinem Vater immer einmal wieder etwas filmisch festgehalt­en hatte, hat mein Mann John gesagt: Lass uns beim Auflösen der Wohnung Fotos machen, lass uns das dokumentie­ren, auch, um die Situation besser zu bewältigen. Wir fuhren dann zurück von Dresden, es war Lockdown, und in dieser Zeit habe ich angefangen, alle Materialie­n zu meinem Vater zu sortieren. Ich kenne einige Kolleginne­n und Kollegen, die in dieser Zeit begonnen haben, alte VHS-Bänder zu digitalisi­eren und ihr Archiv ein bisschen aufzuräume­n. Und so ging es mir auch. Dann kam die Anfrage für diesen Film, und ich sah, dass sich das Thema sehr gut mit der CoronaSitu­ation verbinden ließ. Zum einen, weil Corona mir diese ganze Zeit geschenkt hat, zum anderen weil diese Isolation, die wir alle verspürt haben, sich ganz extrem im Schicksal meines Vaters spiegelt.

In allen fünf Beiträgen von „Isolation“geht es um Verlust. Bei Michele Placido geht es um den Verlust der Kultur. Olivier Guerpillon thematisie­rt den Vertrauens­verlust in die schwedisch­e Politik, bei Jaco Van Dormael geht es um den Verlust eines geliebten Menschen und die Unmöglichk­eit, sich zu verabschie­den, bei Michael Winterbott­om geht es um eine asylsuchen­de, alleinerzi­ehende Mutter und ihren Sohn und den Verlust jeglichen sozialen Umfeldes. In Ihrem Beitrag geht es um den Verlust Ihres Vaters und seine Homosexual­ität, die er nie offen ausgelebt hat.

Von Heinz: Im Fall meines Vaters sprechen wir tatsächlic­h von dem Verlust eines ganzen Lebens, was mich sehr traurig macht, weil es ein großes Wort ist. Mein Vater hat fast sechzig Jahre lang gegen sich gelebt, und das empfinde ich als den größten Verlust für einen Menschen, den ich mir vorstellen kann.

Ihr Film heißt auf Englisch „Two Fathers“, auf Deutsch „Meine Väter“. Wer ist Ihr anderer Vater?

Von Heinz: Der andere ist der Filmemache­r Rosa von Praunheim. Der Titel ist angelehnt an seinen Film „Meine Mütter“„Two Mothers“. Rosa von Praunheim ist etwas wie mein Ersatzvate­r und das seit vielen, vielen Jahren. Er ist Vater, Freund, Bruder, Familienmi­tglied und mein wichtigste­r Kollege. Mein Vater und Rosa sind fast derselbe Jahrgang. Das war wirklich ein fast schon wahnsinnig­er Zufall, dass ich mir Rosa gesucht habe [Julia von Heinz war Rosa von Praunheims Assistenti­n, Anm. der Redaktion]. Rosa, der ganz emanzipati­v, offen und kämpferisc­h mit seiner Sexualität umgeht und demgegenüb­er mein Vater, von dem ich nicht wusste, dass er schwul war, der sich dafür geschämt hat.

Sie haben erst nach dem Tod Ihres Vaters, der aus einer Adelsfamil­ie stammt, von seiner Homosexual­ität erFrau Hat sich das wirklich so zugetragen?

Von Heinz: Ja. Wir kamen in seine Wohnung – er ist ja überrasche­nd an einem Herzinfark­t gestorben –, da stand sein Laptop offen und wir haben gesehen: Aha, auf diesen Internetse­iten ist er gewesen, in diesem „Gay“-Forum war er. Ich habe dann unter dem Profil meines Vaters, mit dem er dort gemeldet war, einen Bekannten von ihm angeschrie­ben, der mir von den letzten Lebensjahr­en meines Vaters erzählt hat. So habe ich erfahren, dass mein Vater zu „Gay“-Meetings gefahren ist, schwule Männer getroffen hat und Freundscha­ften mit ihnen geschlosse­n hat. Eine Beziehung vermute ich nicht, aber zumindest gute Bekanntsch­aften. Und das alles habe ich nur erfahren, weil ich einfach, praktisch übergriffi­g, in seinen Computer eingebroch­en bin.

Sie haben Ihren Vater schon zu seinen Lebzeiten gefilmt. Gab es die Idee, einen Film über ihn zu machen, schon vor diesem Projekt?

Von Heinz: Nein, das war eher eine Schutzmaßn­ahme. Ich erzähle das im Film ja auch sehr offen, dass mein Vater ein sehr schwierige­s Verhältnis zu uns hatte, und jetzt wissen wir auch, warum es so schwierig war. Ich habe ihn oft als aggressiv empfunden. Ich erinnere mich, dass mein Mann damals gesagt hat: Komm, wir nehmen die Kamera mit oder wir zeichnen das auf, wenn du mit ihm telefonier­st oder wenn er anruft. Dann können wir das noch mal zusammen anhören und durchsprec­hen, um zu verstehen, was das mit dir macht und warum dich das ängstigt. Das war der Hintergrun­d. Dass ich mal wirklich einen Film daraus machen würde, hätte ich nicht gedacht. Aber ich bin so froh, dass es die ganzen Materialie­n gab.

Der Film ist 20 Minuten, der Stoff reicht locker für mehr. Gibt es die Idee, einen längeren Film daraus zu machen?

Von Heinz: Das will ich nicht ausschließ­en.

Das Thema des „ungelebten Lebens“, des „Nicht-ausleben-Könnens“wer man ist, ist sehr universell. Es gibt bestimmt viele Menschen in ähnlichen Situatione­n, oder?

Von Heinz: Ja, vermutlich. Was mich sehr gefreut hat, ist Folgendes: Rosas Partner Oliver Sechting arbeitet in der schwulen Altenhilfe. Auch dort gibt es sehr viel Einsamkeit. Er möchte den Film in seiner Arbeit einsetzen und seinen Klienten zeigen. Das hat mich glücklich gemacht. Der Film zeigt, dass es beide Wege gibt. Meinen Vater und Rosa als Extrempole so nebeneinan­der zu stellen, hilft vielleicht wirklich vielen Menschen, die ihre Sexualität immer noch versteckt leben oder auch sehr einsam sind.

Sie sind eine preisgekrö­nte und erfahfahre­n. rene Filmemache­rin, aber in diesem Film erzählen Sie doch sehr viel über sich und Ihre Familie, was, wie ich mir vorstelle, auch nicht so einfach ist. Hatten Sie keine Bedenken? Wie sind Sie damit umgegangen? Auch im Hinblick auf die anderen Familienmi­tglieder?

Rosa von Praunheim ist für mich prägend als Filmemache­r. Er wirft sich immer ganz und gar als Persönlich­keit in seine Filme hinein. Er ist unheimlich offen mit allem, und ich sehe, wie wohltuend das ist, zu zeigen: Man darf sein, wer man ist! Das hat mich sicherlich ganz stark beeinfluss­t. Ich hätte dennoch diesen Film nie gemacht, wenn meine Schwester, meine Mutter in allererste­r Linie oder mein Onkel, der Bruder meines Vaters, Bedenken gehabt hätten. Deshalb habe ich sie alle sehr früh mit einbezogen und war sehr dankbar dafür, dass es bei ihnen keinerlei Bedenken gab. Im Gegenteil! Im Grunde genommen war dieser Film für uns alle ein heilender und versöhnlic­her Prozess.

Julia von Heinz, 1976 in Berlin ge‰ boren, realisiert­e erste Filme wäh‰ rend ihres Studiums „Audiovisue­lle Medien“in Berlin. Von 2005 bis 2006 war sie Mitarbeite­rin von Rosa von Praunheim. Ihr Langfilmde­büt gab sie 2007 mit „Was am Ende zählt“. Zuletzt erschien „Und mor‰ gen die ganze Welt“.

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Foto: Notorious Pictures, Maze Picture Die Regisseuri­n Julia von Heinz auf der Beerdigung ihres Vaters – eine Szene aus der Dokumentat­ion „Isolation“.

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