Jack London: Der Seewolf (15)
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg
Ich verkehre immer mit den Offizieren“, bemerkte er vertraulich zu mir. „Ich weiß mich beliebt zu machen. Mein früherer Kapitän – ei, das ging nicht anders, ich mußte zu ihm in die Kajüte kommen und ein Gläschen mit ihm trinken. ,Mugridge,‘ sagte er, ,Mugridge, du hast deinen Beruf verfehlt.‘ ,Und wieso?‘ ,Du hättest Gentleman werden müssen und nie für Geld arbeiten dürfen.‘ Gott straf’ mich, Hump, wenn er das nicht gesagt hat, und ich saß gemütlich mit ihm in seiner Kajüte, rauchte seine Zigarren und trank seinen Rum.“
Dies Gespräch trieb mich zur Verzweiflung. Ich habe nie eine Stimme gehört, die mir so verhaßt war. Seine ölige, gewundene Sprechweise, sein fettiges Lächeln und sein ungeheures Selbstbewußtsein zerrten an meinen Nerven, bis ich manchmal am ganzen Leibe zitterte. Er war tatsächlich der ekelhafteste, widerwärtigste Mensch, den ich je getroffen habe. Seine Kocherei war eine unbeschreibliche Schweinerei, und da er alles kochte, was an Bord gegessen wurde, mußte ich mir mit allergrößter Vorsicht das am wenigsten Schmutzige aus dem Fraß heraussuchen.
Ich war nicht gewohnt zu arbeiten, und meine Hände schmerzten mich sehr. Die Nägel wurden schwarz und die Haut so schmutzig, daß selbst eine Scheuerbürste sie nicht mehr reinigen konnte. Immer neue Blasen schmerzten, und dazu hatte ich eine große Brandwunde am Unterarm, die ich mir zugezogen hatte, als ich einmal beim Rollen des Schiffes das Gleichgewicht verlor und gegen den Herd geschleudert wurde. Mein Knie hatte sich noch nicht gebessert. Es war immer noch geschwollen. Das Herumhumpeln von früh bis in die Nacht war nicht dazu angetan, es zu heilen. Wenn es überhaupt besser werden sollte, mußte ich Ruhe haben.
Ruhe! Nie zuvor hatte ich den Sinn dieses Wortes verstanden. Ohne es zu wissen, hatte ich mein ganzes Leben geruht. Aber jetzt! Hätte ich nur eine halbe Stunde stillsitzen können, ohne etwas zu tun, ja, ohne zu denken – es wäre das Schönste von der Welt für mich gewesen. Aber es war doch eine Offenbarung für mich. Jetzt war ich besser imstande, das Leben eines Arbeiters zu würdigen. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß Arbeit etwas so Furchtbares wäre. Von halb fünf morgens bis zehn Uhr nachts bin ich der Sklave aller und habe nicht eine Minute für mich, außer dem winzigen Augenblick, den ich mir gegen Ende der zweiten Hundewache stehlen kann. Halte ich eine Sekunde inne, um über die See zu blicken, die in der Sonne funkelt, oder zuzuschauen, wenn ein Matrose nach oben ins Gaffeltoppsegel geht oder aufs Bugspriet hinausläuft – gleich höre ich die verhaßte Stimme: „Hallo, Hump, nicht faulenzen! Ich passe auf.“Es gibt Anzeichen von zunehmender Mißstimmung im ,Zwischendeck‘, und es heißt, daß schon eine Prügelei zwischen ,Smoke‘ und Henderson stattgefunden habe. Henderson scheint der beste von den Jägern zu sein, ein besonnener Bursche, der schwer aus seiner Ruhe kommt Diesmal muß er aber sehr erbost gewesen sein, denn als ,Smoke‘ zum Abendbrot in die Kajüte kam, hatte er ein blaues Auge und sah bös aus.
Gerade vor dem Abendbrot hatte sich auf Deck etwas ereignet, das für die Gefühllosigkeit und Roheit dieser Männer bezeichnend ist. Unter der Mannschaft befindet sich ein junger Mensch namens Harrison, ein plump aussehender Bauernbursche, der, vermutlich von Abenteuerlust getrieben, seine erste Seereise macht. In dem leichten, veränderlichen Wind laviert der Schoner ziemlich viel, und dann muß jedesmal ein Mann nach oben gehen, um das vordere Gaffeltoppsegel umzulegen. Irgendwie hatte sich nun, als Harrison oben war, die Schoot im Block am Ende der Gaffel festgeklemmt. Soviel ich verstand, gab es zwei Möglichkeiten, sie loszubekommen – erstens, das Segel herunterzufieren, was verhältnismäßig leicht und gefahrlos war, zweitens auf der Piek bis zum Ende der Gaffel hinauszuklettern, ein gewagtes Unternehmen. Johansen rief Harrison zu, er solle hinausklettern. Alle sahen, daß der Junge Angst hatte, und dazu hatte er alle Ursache: achtzig Fuß über dem Deck und nichts, um sich festzuhalten, als dies dünne, ruckweise hin und her geschleuderte Tau! Hätte ein stetiger Wind geweht, so würde es nicht so schlimm gewesen sein, aber die ,Ghost‘ rollte ohne Ladung in der Dünung, und bei jedem Überholen gerieten die Segel in schwingende Bewegung und schlugen, und die Falle wurden schlaff und dann mit einem Ruck wieder straff. Sie vermochten einen Mann hinunterzufegen wie ein Peitschenschmitz eine Fliege.
Harrison hörte den Befehl und verstand, was man von ihm verlangte, zögerte jedoch. Vermutlich war er das erstemal in seinem Leben in der Takelung. Johansen, von Wolf Larsens Herrschsucht angesteckt, brach in einen Strom von Flüchen aus.
„Genug, Johansen,“sagte der Kapitän schroff, „das Fluchen auf dem Schiff besorge ich selbst, daß Sie und alle es wissen. Wenn ich Ihre Hilfe brauche, werde ich Sie rufen.“
„Jawohl, Käptn“, antwortete der Steuermann unterwürfig.
Unterdessen war Harrison auf das Fall hinausgeklettert. Ich blickte durch die Kombüsentür hinauf und konnte sehen, wie er zitterte, als wären ihm alle Glieder vom Schüttelfrost gepackt. Er kroch ganz langsam und vorsichtig, Zoll für Zoll. Von dem klaren Blau des Himmels hob er sich ab wie eine Riesenspinne, die an ihrem Netzwerk entlang kriecht.
Er mußte leicht aufwärts klettern, denn das Segel stand nach oben. Das Fall, das durch verschiedene Blöcke am Gaffel und Mast lief, gab ihm einige Stützpunkte für Hände und Füße. Aber das schlimmste war, daß der Wind nicht kräftig und stetig genug wehte, um das Segel zu blähen. Als er sich etwa in der Mitte befand, machte die ,Ghost‘ eine Schlingerbewegung nach Luv und wieder zurück in ein Wellental. Harrison hielt inne und klammerte sich fest. Achtzig Fuß unter ihm konnte ich seine krampfhaften Muskelbewegungen sehen: er kämpfte um sein Leben. Das Segel wurde schlaff und schwang mittschiffs. Das Fall gab nach, und obgleich sich das alles mit großer Schnelligkeit abspielte, konnte ich doch sehen, wie es durch sein Körpergewicht sackte. Dann schwang die Gaffel mit einem Ruck zur Seite, das große Segel schwoll wie aus der Kanone geschossen, und die dreifache Reihe von Reffseisingen klatschte wie eine Gewehrsalve gegen die Leinwand. Harrison sauste, immer noch festgeklammert, durch die Luft, aber das Fall straffte sich wieder mit einem scharfen Ruck. Es war wie ein Peitschenhieb. Da verlor er den Halt. Die eine Hand wurde losgerissen, die andere krampfte sich einen Augenblick verzweifelt fest, dann folgte auch sie. Der Körper sauste hinunter, aber glücklicherweise blieb er mit den Füßen hängen. Durch eine schnelle Bewegung gelang es ihm, das Fall zu packen, aber es dauerte nicht lange, bis er sich wieder hochgeschwungen hatte.
»16. Fortsetzung folgt