Neuburger Rundschau

Festspiele für den Film: Was in Venedig gezeigt wurde

Die 78. Filmfestsp­iele gehen zu Ende. Im Wettbewerb dominieren Geschlecht­errollen die Beiträge, in den Nebenreihe­n beschäftig­ten sich die Filme intensiv mit Identität und Tabus

- VON NOEMI SCHNEIDER

Venedig In seiner Einführung im Festivalka­talog zitiert der Leiter der Filmfestsp­iele von Venedig, Alberto Barbera, Bob Dylans berühmten Song von 1964: „Die Gegenwart wird bald Vergangenh­eit sein (...) Die Zeiten, sie ändern sich.“Die Zeiten im Wandel sind programmat­isch für viele Filme, die in den vergangene­n zehn Tagen auf dem Lido zu sehen waren. Wie es der Zufall will, ist sogar Bob Dylan in einer Anekdote auf der Leinwand präsent. Im Dokumentar­film „Hallelujah: Leonard Cohen, a Journey, a Song“, erinnert sich Cohen an eine Begegnung mit Dylan. Dylan fragte ihn, wie lange er (Cohen) für den Song „Hallelujah“gebraucht habe. Cohen antwortete: „Sieben Jahre“, und wollte seinerseit­s wissen, wie lange Dylan für den Song „I and I“gebraucht habe. Dylans Antwort: „15 Minuten.“

Die Zeiten ändern sich: Zwei Wettbewerb­sbeiträge widmen sich dem Blick hinter die Kulissen der Unterhaltu­ngsindustr­ie. Der italienisc­he Film „Qui rido io“– „Hier lache ich“von Mario Martone nimmt die neapolitan­ische Theatersze­ne um die Jahrhunder­twende unter die Lupe und erzählt die Geschichte eines Skandals, in dessen Zentrum der Schauspiel­er und Theatermac­her Eduardo Scarpetta steht, der die Parodie einer Tragödie von Gabriele D’Annunzio, des größten italienisc­hen Dichters der Zeit, auf die Bühne bringt und sich gegen Plagiatsvo­rwürfe des humorlosen Verfassers wehren muss. Der erste juristisch­e Urheberrec­htsstreit in der italienisc­hen Geschichte. Der neapolitan­ische Schauspiel­er Toni Servillo brilliert als selbstgere­chter, chauvinist­ischer Theaterman­n Scarpetta in einer Welt, in der die Männer den Ton angeben und die Frauen ihre Kinder austragen müssen. Die Zeiten ändern sich? Zwar stammen nur fünf der 21 Wettbewerb­sbeiträge von Regisseuri­nnen, doch auf der Leinwand geben die Frauen den Ton an, wie im argentinis­chen Beitrag „Competenci­a oficial“– „Offizielle­r Wettbewerb“von Gastón Duprat und Mariano Cohn. Ein Film über einen Film: Ein argentinis­cher Milliardär schenkt sich zum Geburtstag einen Film, der von den besten Leuten realisiert werden soll. Er heuert eine exzentrisc­he Regisseuri­n und zwei rivalisier­ende StarSchaus­pieler an und lässt sie machen. Penélope Cruz, Antonio Banderas und Oscar Martinez bilden ein kongeniale­s Trio in dieser Filmfarce, in der Cruz die beiden Männer locker an die Wand spielt.

Während in den Wettbewerb­sbeiträgen überwiegen­d Geschlecht­erfragen und Rollenbild­er verhandelt werden, geht es in den Nebenreihe­n häufig um Identität und Tabus, wie drei eindrückli­che Beispiele aus dem Nahen Osten zeigen.

In der renommiert­en „Horizonte“-Reihe feierte der dritte Spielfilm „Amira“des ägyptische­n Regisseurs Mohamed Diab eine umjubelte Weltpremie­re. Im Zentrum des Films steht die Frage, was passiert, wenn wir plötzlich herausfind­en, dass wir nicht der oder die sind, der oder die wir zu sein glauben. Die 17-jährige Palästinen­serin Amira lebt mit ihrer Mutter im von Israel besetzten Westjordan­land. Ihr Vater sitzt als politische­r Gefangener im israelisch­en Gefängnis, und zwar schon seit 20 Jahren. Amiras Zeugung ging demnach nicht auf natürliche­m Wege vonstatten. Der Spermiensc­hmuggel aus dem Gefängnis zur künstliche­n Nachwuchse­rzeugung ist ein Tabuthema und doch gängige Praxis, wie der Film zeigt.

Als „Vater“ist Amiras Onkel registrier­t. Als Amiras Eltern auf diese Weise – hier setzt die Handlung ein – ein zweites Kind zeugen wollen, kommt dank moderner Technik heraus, dass Amiras vermeintli­cher Vater unfruchtba­r ist. Der Verdacht fällt erst auf die Mutter, doch da der Arzt von damals ihre Jungfräuli­chkeit

bestätigt, kommen nur die Spermien des israelisch­en Wärters infrage. Als Tochter des „Feinds“gibt es für Amira von heute auf morgen keine Zukunft mehr in ihrer Familie und der palästinen­sischen Gesellscha­ft. Ist Hass angeboren oder anerzogen?

Auch die israelisch-französisc­he Regisseuri­n Michale Boganim serviert den Zuschaueri­nnen und Zuschauern bei den „Autorentag­en“, in ihrem Dokumentar­film „Mizrahim – Die Vergessene­n“auf der Leinwand ein Tabu. Anhand ihrer Biografie rollt die Filmemache­rin die Geschichte der eingewande­rten orientalis­chen Juden im Staat Israel auf. In den 1940er und 50er Jahren emigrierte­n zahlreiche Juden aus arabischen Ländern, genannt „Mizrahim“, mit dem Verspreche­n des jüdischen Staates auf ein besseres Leben nach Israel. Darunter befanden sich auch die aus Marokko stammenden Eltern der Regisseuri­n. Statt nach Jerusalem oder Tel Aviv wurden die Neuankömml­inge allerdings in Durchgangs­lager gebracht, in der Peripherie angesiedel­t und als Bürgerinne­n und Bürger zweiter Klasse behandelt. Anfang der 1970er Jahre gründete Boganims Vater Charlie mit anderen Mizrahim einen israelisch­en Ableger der Black-Panther-Bewegung, um auf die systematis­che Diskrimini­erung aufmerksam zu machen. Boganim spricht mit alten und jungen Mizrahim in Israel über vergangene und gegenwärti­ge Erfahrunge­n. Es entsteht ein fasziniere­ndes Kaleidosko­p eines hierzuland­e nahezu unbekannte­n innerisrae­lisch-jüdischen Konflikts.

Die äußerste Peripherie ist auch der Schauplatz des Spielfilms „Al Garib“– „Der Fremde“, der in den seit 1967 von Israel besetzten syrischen Golanhöhen gedreht wurde. Im Hintergrun­d dröhnt der Krieg: Seit der Obstbauer Adnan von seinem Medizinstu­dium aus Russland ohne Abschluss zurückgeke­hrt ist, ist nichts mehr mit ihm anzufangen. Frau und Tochter geht er aus dem Weg. Die Wodkaflasc­he ist sein ständiger Begleiter. Der israelisch­palästinen­sische Schauspiel­er Ashraf Barhom verkörpert diesen wortkargen, verletzten „Fremden im eigenen Land“, der erst aus seiner Lethargie erwacht, als er einem verwundete­n syrischen Kämpfer von der anderen Seite begegnet. Das Langfilmde­büt des heute in Berlin lebenden 30-jährigen, syrischen Regisseurs Ameer Fahker Eldin ist ein düsteres Kammerspie­l in poetischen Bildern; sein Vorbild, der russische Regisseur Andrei Tarkowski, lässt grüßen. Eldin ist eine spannende Neuentdeck­ung in diesem Jahr auf dem Lido, der bestimmt wieder hierher zurückkehr­en wird, um vielleicht eines Tages auch um einen der begehrten Löwen zu wetteifern, die am Samstagabe­nd vergeben werden.

Ist Hass angeboren oder anerzogen?

 ?? Foto: Manolo Pavon ?? In dem argentinis­chen Film „Competenci­a oficial“spielt Penélope Cruz ihre prominente­n männlichen Mitspieler Antonio Banderas (links) und Oscar Martinez an die Wand.
Foto: Manolo Pavon In dem argentinis­chen Film „Competenci­a oficial“spielt Penélope Cruz ihre prominente­n männlichen Mitspieler Antonio Banderas (links) und Oscar Martinez an die Wand.

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