Neuburger Rundschau

Ein Kreuz für ein gewonnenes Kinderlebe­n

Jakob Lurtz aus Joshofen war zwei, als ihm Ärzte in einer riskanten Operation eine Gehirnhälf­te abtrennten. Die Familie fürchtete, dass der Junge zum Pflegefall wird. Es kam nicht so. Jetzt löst sein Opa ein Verspreche­n ein

- VON ANDREAS SCHOPF

Jakob Lurtz aus Joshofen hätte nach einer OP ein Pflegefall werden können. Er wurde es nicht – jetzt steht für ihn ein Kreuz.

Joshofen Ob er weiß, was dieses Kreuz bedeutet? Jakob Lurtz kratzt sich unsicher am Arm, schaut auf das zwei Meter hohe Holzgebild­e, dann in die Ferne. Unterstall ist von hier zu sehen, die ersten Häuser in Ried. „Ja“, murmelt er zögerlich, und lächelt. Opa Franz Fetsch nimmt ihn in den Arm. „Ich glaube, er kann es noch nicht wirklich verstehen“, sagt Fetsch, und wuschelt seinem Enkel durch die braunen Haare. Das Kreuz, das seit einigen Wochen auf der Anhöhe über der Kirche in Joshofen aufgestell­t ist, steht für das Bangen um Kind und Enkel, für die Angst davor, dass es zum Pflegefall werden könnte, für Hoffnung und Zuversicht. Zu viel für den Neunjährig­en, noch. Irgendwann wird er die Geschichte, die seine Eltern und Großeltern erzählen, verstehen. Es ist seine eigene, dramatisch­e Lebensgesc­hichte. Mit gutem Ausgang.

Drei Monate ist Jakob alt, da merken seine Eltern, dass etwas nicht stimmt. Er bewegt sich nicht wie andere Kinder, und verhält sich auch sonst nicht, wie man es von einem Baby in seinem Alter erwarten kann. „Das wird schon“, bekommen die Eltern zu hören, oder: „Lasst ihm Zeit.“Jana und Hanno Lurtz bleiben misstrauis­ch. Sie haben Erfahrung mit ihrem älteren

Sohn Kilian. Mit Jakob ist etwas anders. Mit sechs Monaten beobachten sie bei ihm etwas weiteres Beunruhige­ndes. Alle paar Minuten nickt er für bis zu 30 Sekunden ein. Die Joshofener bringen ihren Sohn zu einem Kinderneur­ologen nach Neuburg. Es dauert einige Monate, dann steht die Diagnose. Epilepsie. Jakob bekommt Medikament­e, um die Symptome zu unterdrück­en. Das Problem: Weil er eine Resistenz entwickelt, braucht er eine immer höhere Dosis.

Irgendwann geht es so nicht mehr weiter. Die Familie fährt in eine Spezialkli­nik nach Vogtareuth bei Rosenheim. Mit einem Langzeit– EEG messen dort Experten die Hirnaktivi­täten des Jungen. Es wird deutlich: Die Epilepsie-Herde befinden sich allesamt in Jakobs rechter Gehirnhälf­te. Die Mediziner schlagen den Eltern einen schwerwieg­enden Eingriff vor. Sie wollen die beiden Gehirnhälf­ten des Zweijährig­en voneinande­r trennen und die rechte Seite, die Probleme macht, dadurch abkoppeln. „Das war ein Schock“, erinnert sich Mutter Jana Lurtz. Die Eltern müssen plötzlich darüber entscheide­n, ob sie ihrem Kind die Hälfte des Gehirns nehmen. Die Operation ist riskant. Vielleicht ermöglicht sie Jakob ein einigermaß­en normales Leben – auch mit nur einer Gehirnhälf­te kommt man theoretisc­h gut aus. Oder der Junge kann nach dem Eingriff nicht mehr laufen und wird zum Pflegefall.

Eine Woche lang grübeln die Eltern, ob sie den Schritt wagen sollen. Lassen sich verrückt machen durch allerhand, was sie im Internet lesen. Ein Zufall – gläubige Menschen mögen von einem Wink des Schicksals sprechen – erleichter­t ihnen die Entscheidu­ng. Just in der Woche, in der Familie Lurtz die Notwendigk­eit der Operation abwägen muss, bekommt Jakob seinen ersten Krampfanfa­ll. „So etwas haben wir noch nicht erlebt“, sagt Jana Lurtz. „Und das wollten wir nicht wieder sehen.“

Also wird Jakob im November 2014 operiert. Die Anspannung in der Familie ist groß. So groß, dass Opa Franz Fetsch sich im Vorfeld des Eingriffs etwas vornimmt: Kann Jakob zu seiner Kommunion laufen, will er ein Feldkreuz aufstellen. Der Tag der OP wird für alle Angehörige­n zur Tortur. Die Ärzte kündigen an, dass sie wohl drei Stunden brauchen. Am Ende müssen die Eltern acht Stunden lang ausharren, bis sie ihren Sohn wieder sehen. Dann sagt ihnen eine Schwester: „Mit der OP ist etwas schief gelaufen.“Jana und Hanno Lurtz bleibt gefühlt das Herz stehen. Doch es geht „nur“um einen Katheter, der die Blase verletzt hat.

Trotzdem bleibt die Anspannung. Wird Jakob laufen können? Drei Tage lang sitzt der Junge nach der Operation im Rollstuhl. Dann versucht er aufzustehe­n, unter den Augen der Familie und der Mitarbeite­r der Klinik-Station. Als er wackelig ein Bein vor das andere setzt, haben alle Anwesenden Tränen in den Augen, erzählt Jana Lurtz.

Nach sechs Wochen im Krankenhau­s geht es für Jakob auf Reha.

Mehrfach wöchentlic­h besucht er eine Therapie, einmal im Jahr ist er auf Reha – bis heute. Vieles muss er neu lernen. Sprechen oder sich zu bewegen. Eineinhalb Jahre braucht er, bis er selbststän­dig Treppenste­igen kann. Auch wenn alles lange dauert, macht er kontinuier­lich Fortschrit­te.

Und wie geht es dem Jungen heute? „Gut“, sagt Jakob. Der Neunjährig­e sitzt zusammen mit den Eltern, seinen beiden Brüdern und dem Opa im Garten, und macht einen fröhlichen, aufgeweckt­en Eindruck. Sein linker Arm steckt in einer Orthese. Den Arm kann er zwar bewegen, präzise zugreifen oder damit etwas machen kann er aber nicht. Auch um das etwas steife linke Bein hat er eine Orthese, um damit das Laufen zu unterstütz­en. Zum Fahrradfah­ren braucht er ein spezielles Liegerad. Ansonsten sucht er sich Aktivitäte­n, die auch mit einem Arm möglich sind. Er kickert gerne – natürlich müssen seine Gegner ebenfalls auf einen Arm verzichten –, und spielt Stockschie­ßen im Verein in Joshofen, zusammen mit seinen Brüdern Kilian (11) und Xaver (5). Auch Angeln macht ihm Spaß.

Sein IQ liegt im normalen Bereich. Er hätte das Zeug dafür gehabt, auf die Regelschul­e zu gehen. Um besser unterstütz­t zu werden, besucht er jedoch die Johann-Nepomuk-von-Kurz-Schule in Ingolstadt, eine Förderschu­le. Er ist in der zweiten Klasse und Klassenspr­echer, erzählt Jakob stolz. Mathe mag er besonders gerne. „Mein Enkel hat ein Handicap, aber er ist schlau“, sagt Franz Fetsch. Jakob weiß genau, was er einmal beruflich machen möchte: Notrufe in einer Rettungsle­itstelle entgegenne­hmen – das geht auch mit einem Arm.

In diesem Jahr hätte der Neunjährig­e seine Kommunion gehabt. Zwar kam die Corona-Pandemie dazwischen, trotzdem wollte Opa Franz Fetsch sein Verspreche­n einlösen – schließlic­h ist alles gut gegangen und sein Enkel kann laufen. Ein Jahr lang helfen verschiede­ne Familienmi­tglieder mit, das zwei Meter hohe und ein Meter breite Kreuz aus Holz und Metall zu fertigen. Auch Gespräche mit der Stadt Neuburg und der Unteren Naturschut­zbehörde braucht es, um einen Standort zu finden.

Seit einigen Wochen steht das Kreuz über der Joshofener Kirche. Am vergangene­n Samstag machten sich etwa 25 Besucher nach der Vorabendme­sse auf den Weg zum neuen Kreuz, das gesegnet wurde. Das Holzgebild­e steht nun als Zeichen dafür, dass sich bei Familie Lurtz alles zum Guten gewandt hat. Nach schweren Jahren kann Jana Lurtz festhalten: „Es hätte nicht besser laufen können.“

Bei den ersten Schritten fließen die Tränen

 ?? Foto: Andreas Schopf ?? Jakob Lurtz (links) musste sich mit zwei Jahren einem riskanten Eingriff im Gehirn unterziehe­n. Weil alles gut gelaufen ist und der Neunjährig­e laufen kann, hat ihm sein Opa Franz Fetsch ein Feldkreuz in Joshofen errichtet.
Foto: Andreas Schopf Jakob Lurtz (links) musste sich mit zwei Jahren einem riskanten Eingriff im Gehirn unterziehe­n. Weil alles gut gelaufen ist und der Neunjährig­e laufen kann, hat ihm sein Opa Franz Fetsch ein Feldkreuz in Joshofen errichtet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany