Ein Kreuz für ein gewonnenes Kinderleben
Jakob Lurtz aus Joshofen war zwei, als ihm Ärzte in einer riskanten Operation eine Gehirnhälfte abtrennten. Die Familie fürchtete, dass der Junge zum Pflegefall wird. Es kam nicht so. Jetzt löst sein Opa ein Versprechen ein
Jakob Lurtz aus Joshofen hätte nach einer OP ein Pflegefall werden können. Er wurde es nicht – jetzt steht für ihn ein Kreuz.
Joshofen Ob er weiß, was dieses Kreuz bedeutet? Jakob Lurtz kratzt sich unsicher am Arm, schaut auf das zwei Meter hohe Holzgebilde, dann in die Ferne. Unterstall ist von hier zu sehen, die ersten Häuser in Ried. „Ja“, murmelt er zögerlich, und lächelt. Opa Franz Fetsch nimmt ihn in den Arm. „Ich glaube, er kann es noch nicht wirklich verstehen“, sagt Fetsch, und wuschelt seinem Enkel durch die braunen Haare. Das Kreuz, das seit einigen Wochen auf der Anhöhe über der Kirche in Joshofen aufgestellt ist, steht für das Bangen um Kind und Enkel, für die Angst davor, dass es zum Pflegefall werden könnte, für Hoffnung und Zuversicht. Zu viel für den Neunjährigen, noch. Irgendwann wird er die Geschichte, die seine Eltern und Großeltern erzählen, verstehen. Es ist seine eigene, dramatische Lebensgeschichte. Mit gutem Ausgang.
Drei Monate ist Jakob alt, da merken seine Eltern, dass etwas nicht stimmt. Er bewegt sich nicht wie andere Kinder, und verhält sich auch sonst nicht, wie man es von einem Baby in seinem Alter erwarten kann. „Das wird schon“, bekommen die Eltern zu hören, oder: „Lasst ihm Zeit.“Jana und Hanno Lurtz bleiben misstrauisch. Sie haben Erfahrung mit ihrem älteren
Sohn Kilian. Mit Jakob ist etwas anders. Mit sechs Monaten beobachten sie bei ihm etwas weiteres Beunruhigendes. Alle paar Minuten nickt er für bis zu 30 Sekunden ein. Die Joshofener bringen ihren Sohn zu einem Kinderneurologen nach Neuburg. Es dauert einige Monate, dann steht die Diagnose. Epilepsie. Jakob bekommt Medikamente, um die Symptome zu unterdrücken. Das Problem: Weil er eine Resistenz entwickelt, braucht er eine immer höhere Dosis.
Irgendwann geht es so nicht mehr weiter. Die Familie fährt in eine Spezialklinik nach Vogtareuth bei Rosenheim. Mit einem Langzeit– EEG messen dort Experten die Hirnaktivitäten des Jungen. Es wird deutlich: Die Epilepsie-Herde befinden sich allesamt in Jakobs rechter Gehirnhälfte. Die Mediziner schlagen den Eltern einen schwerwiegenden Eingriff vor. Sie wollen die beiden Gehirnhälften des Zweijährigen voneinander trennen und die rechte Seite, die Probleme macht, dadurch abkoppeln. „Das war ein Schock“, erinnert sich Mutter Jana Lurtz. Die Eltern müssen plötzlich darüber entscheiden, ob sie ihrem Kind die Hälfte des Gehirns nehmen. Die Operation ist riskant. Vielleicht ermöglicht sie Jakob ein einigermaßen normales Leben – auch mit nur einer Gehirnhälfte kommt man theoretisch gut aus. Oder der Junge kann nach dem Eingriff nicht mehr laufen und wird zum Pflegefall.
Eine Woche lang grübeln die Eltern, ob sie den Schritt wagen sollen. Lassen sich verrückt machen durch allerhand, was sie im Internet lesen. Ein Zufall – gläubige Menschen mögen von einem Wink des Schicksals sprechen – erleichtert ihnen die Entscheidung. Just in der Woche, in der Familie Lurtz die Notwendigkeit der Operation abwägen muss, bekommt Jakob seinen ersten Krampfanfall. „So etwas haben wir noch nicht erlebt“, sagt Jana Lurtz. „Und das wollten wir nicht wieder sehen.“
Also wird Jakob im November 2014 operiert. Die Anspannung in der Familie ist groß. So groß, dass Opa Franz Fetsch sich im Vorfeld des Eingriffs etwas vornimmt: Kann Jakob zu seiner Kommunion laufen, will er ein Feldkreuz aufstellen. Der Tag der OP wird für alle Angehörigen zur Tortur. Die Ärzte kündigen an, dass sie wohl drei Stunden brauchen. Am Ende müssen die Eltern acht Stunden lang ausharren, bis sie ihren Sohn wieder sehen. Dann sagt ihnen eine Schwester: „Mit der OP ist etwas schief gelaufen.“Jana und Hanno Lurtz bleibt gefühlt das Herz stehen. Doch es geht „nur“um einen Katheter, der die Blase verletzt hat.
Trotzdem bleibt die Anspannung. Wird Jakob laufen können? Drei Tage lang sitzt der Junge nach der Operation im Rollstuhl. Dann versucht er aufzustehen, unter den Augen der Familie und der Mitarbeiter der Klinik-Station. Als er wackelig ein Bein vor das andere setzt, haben alle Anwesenden Tränen in den Augen, erzählt Jana Lurtz.
Nach sechs Wochen im Krankenhaus geht es für Jakob auf Reha.
Mehrfach wöchentlich besucht er eine Therapie, einmal im Jahr ist er auf Reha – bis heute. Vieles muss er neu lernen. Sprechen oder sich zu bewegen. Eineinhalb Jahre braucht er, bis er selbstständig Treppensteigen kann. Auch wenn alles lange dauert, macht er kontinuierlich Fortschritte.
Und wie geht es dem Jungen heute? „Gut“, sagt Jakob. Der Neunjährige sitzt zusammen mit den Eltern, seinen beiden Brüdern und dem Opa im Garten, und macht einen fröhlichen, aufgeweckten Eindruck. Sein linker Arm steckt in einer Orthese. Den Arm kann er zwar bewegen, präzise zugreifen oder damit etwas machen kann er aber nicht. Auch um das etwas steife linke Bein hat er eine Orthese, um damit das Laufen zu unterstützen. Zum Fahrradfahren braucht er ein spezielles Liegerad. Ansonsten sucht er sich Aktivitäten, die auch mit einem Arm möglich sind. Er kickert gerne – natürlich müssen seine Gegner ebenfalls auf einen Arm verzichten –, und spielt Stockschießen im Verein in Joshofen, zusammen mit seinen Brüdern Kilian (11) und Xaver (5). Auch Angeln macht ihm Spaß.
Sein IQ liegt im normalen Bereich. Er hätte das Zeug dafür gehabt, auf die Regelschule zu gehen. Um besser unterstützt zu werden, besucht er jedoch die Johann-Nepomuk-von-Kurz-Schule in Ingolstadt, eine Förderschule. Er ist in der zweiten Klasse und Klassensprecher, erzählt Jakob stolz. Mathe mag er besonders gerne. „Mein Enkel hat ein Handicap, aber er ist schlau“, sagt Franz Fetsch. Jakob weiß genau, was er einmal beruflich machen möchte: Notrufe in einer Rettungsleitstelle entgegennehmen – das geht auch mit einem Arm.
In diesem Jahr hätte der Neunjährige seine Kommunion gehabt. Zwar kam die Corona-Pandemie dazwischen, trotzdem wollte Opa Franz Fetsch sein Versprechen einlösen – schließlich ist alles gut gegangen und sein Enkel kann laufen. Ein Jahr lang helfen verschiedene Familienmitglieder mit, das zwei Meter hohe und ein Meter breite Kreuz aus Holz und Metall zu fertigen. Auch Gespräche mit der Stadt Neuburg und der Unteren Naturschutzbehörde braucht es, um einen Standort zu finden.
Seit einigen Wochen steht das Kreuz über der Joshofener Kirche. Am vergangenen Samstag machten sich etwa 25 Besucher nach der Vorabendmesse auf den Weg zum neuen Kreuz, das gesegnet wurde. Das Holzgebilde steht nun als Zeichen dafür, dass sich bei Familie Lurtz alles zum Guten gewandt hat. Nach schweren Jahren kann Jana Lurtz festhalten: „Es hätte nicht besser laufen können.“
Bei den ersten Schritten fließen die Tränen